Zum wilden Mann | Page 4

Wilhelm Raabe
Tisch und schlurfte, immerfort den Kopf sch��ttelnd, in seiner Bildergalerie auf und ab; und immer klarer und deutlicher stieg die Welt, welche vor drei?ig Jahren, vor einem Menschenalter, war, in seiner Seele empor. Ja, von seiner fr��hesten Kindheit an lag mit einem Mal alles in den sch?rfsten Umrissen vor ihm, und nur seine ihm allzu fr��h gestorbenen Eltern durchzogen schemenhaft die helle Landschaft. Dagegen stand der Vormund in derber, ungem��tlicher Deutlichkeit in dem Zauberlicht und in der Mitte der Scenerie jener kleinen Provinzialstadt jenseits des Gebirges, dem Th��ringerlande zu, mit dem Kyffh?user in der N?he und dem Kickelhahn in der blauen magischen Ferne.
?Der allergew?hnlichste Mensch hat doch immer etwas erlebt, wenn er so ein Menschenalter ��ber ein Menschenalter hinaus zur��ckdenken kann,? murmele der Alte. ?Wie lebendig das nun alles ist, was eben tot und vergessen in meiner Seele lag. Da ist ja der alte Biedermann, der Grauwacker, mein Lehrherr, mit seinem ganzen Haus und Hauswesen. Welch ein schnurriger, verbissener Patron er war; und dann die Patronin, ich meine die Frau Prinzipalin. Herrgott, wie sorgst du in deiner G��te und Weisheit daf��r, da? denen, welchen du einen kleinen L?ffel auf den Lebensweg mitgiebst, auch der Brei nach dem richtigen Ma?e zugemessen wird! Ist es mir doch, als versp��rte ich heute noch das Magenknurren aus jener guten, alten Zeit unter dem Zwerchfell. Und es war doch eine gl��ckliche, gesunde Zeit! Und gelernt hat man auch das Seinige bei dem alten Grauwacker; man mu? es ihm lassen, er verstand das Gesch?ft, die Kunst, und er wu?te uns darin zurecht zu sch��tteln. Alles, was nachher kam --?
Die Glocke der Offizin klingelte von neuem; abermals ging der Apotheker in seine Werkstatt zu seiner Arbeit, die diesmal etwas l?nger als vorhin dauerte. W?hrend er seinen Trank mischte und kochte, f��hrte er im landl?ufigen Dialekt eine Unterhaltung, die wir dem Leser nicht vorenthalten wollen, die Mundart freilich abgerechnet.
?Ihr habt euch bei einem schlimmen Wetter auf den Weg machen m��ssen, Gevatterin. Es steht wohl gar nicht gut zu Hause??
?Wie mit dem Wetter drau?en,? sagte das frische, sehr gesunde Bauerweiblein verdrossen. ?Man hat seine liebe Not, da? man sich dar��ber selber gern vom Tage thun m?chte. Er kann nicht leben und will nicht sterben; -- ich glaube, er h?lt sich eben durch das ?rgernis, welches er uns macht; -- recht machen kann man ihm gar nichts mehr, und von dem Verdru? lebt er so hin von einem Tage zum andern.?
?Hm, hm,? brummte Herr Philipp.
?Ja, es ist doch so, und der Doktor zieht dann das Beste davon. Das Ding hat er gestern Abend verschrieben, und es ist uns sehr eilig gemacht; ich meine aber, Sie wissen es am besten, Herr Kristeller, da? kein Tag vergeht, an welchem Sie mich nicht auf dieser Bank sitzen sehen. So dachte ich denn, es hat wohl Zeit bis morgen, und weggeworfenes Geld ist es doch.?
?Hm, hm,? brummte Herr Philipp, f��gte aber diesmal hinzu: ?Doktor- und Apothekerrechnungen zahlt wohl niemand gern; -- aber wir machen es so billig als m?glich, Gevatterin.?
?Wie es sich schickt f��r eine arme, elende Witfrau,? schluchzte die muntere B?uerin hinter ihren Sch��rzenzipfeln.
?Na, na,? sagte der Apotheker, ?zum Teufel, noch lebt er ja! Witfrau? junge Frau! ei freilich! -- und meiner Meinung nach wird er es noch manches lange, gute Jahr durchmachen. Der Doktor und ich wollen schon das Unsrige thun.?
Die untr?stliche Gattin auf der Bank stie? einen Ton hervor, der alles bedeuten konnte: Dankbarkeit, Hoffnung, Freude, Schreck, Mi?mut, ?rger und Hohn. Der Apotheker hatte seine Mixtur fertig, reichte sie durch das Fenster, und die jammergeschlagene junge Witwe in spe ging ab und zwar zu seinem innigsten Gen��gen gerade in ein erh?htes Aufw��ten und Lostosen des Herbststurmes hinein.
?Die Canaille!? brummte der Alte, als er in seine Bildergalerie zur��ckkam und sich unter dem Eindrucke der Unterhaltung wieder recht fest niederlie?, nachdem er mit merklicher Energie vorher frisches Holz in den Ofen geworfen hatte. ?Dies Frauenzimmer h?tte mir beinahe meine s��?esten Erinnerungen f��r jetzt zu nichte gemacht,? murmelte er. ?Eben geriet ich in dieselben hinein, als das Weib die Glocke zog; aber das ist freilich immer mein Los in der Welt gewesen, und anderen wird es wohl nicht besser gehen. Und dann ist ja doch auch nichts daraus geworden, Johanne! Zusammen sind wir nicht gekommen. Jeder hat seinen eigenen Weg gehen m��ssen; ich unter so sonderbaren Umst?nden in diesen verlorenen Weltwinkel, du, mein armes Kind und Herz, in dein Grab. Nunc cinis ante rosa, einundzwanzig Jahre alt -- ach, Johanne, liebe, liebe Johanne! -- Ja, ja, es w?re doch sch?n und gut gewesen, wenn wir zusammengekommen w?ren und ich dich heute nach einem Menschenalter hier bei mir h?tte als alte, gute, sch?ne Frau!?
Es duldete den guten w��rdigen Herrn an diesem merkw��rdigen Abend nimmer lange auf seinem Sitze. Jetzt holte er ein Paket vergilbter Briefe aus dem oben erw?hnten Pult und l?ste den Bindfaden davon
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