Zerbin | Page 7

Jacob Michael Reinhold Lenz
ein

beständiger Tanz, und wenn sie sprach, jauchzte sie, nicht um damit zu
gefallen, sondern, weil das herzliche innerliche Vergnügen mit sich
selbst und ihrem Zustande keinen andern Ausweg wußte. In ihrem
Anzug war sie immer sehr reinlich, und an dieser Tugend sowohl, als
selbst im Geschmack, ließ sie ihre Gebieterin unendlich weit hinter
sich.--Wie vieles kommt auf den Augenblick an, zu wie vielen
schrecklichen Katastrophen war nur die Zeit, die Verbindung kleiner,
oft unwichtig scheinender Umstände die Lunte! Ach, daß unsere
Richter, vielleicht in spätern bessern Zeiten, der göttlichen
Gerechtigkeit nachahmend, auch dies auf die Waagschale legten, nicht
die Handlung selbst, wie sie ins Auge fällt, sondern sie mit allen ihren
Veranlassungen und zwingenden Ursachen richteten, eh' sie sie zu
bestrafen das Herz hätten!--In einem der Augenblicke, wo die
menschliche Seele an all ihrem Glück verzagt, brachte Marie (so hieß
die Aufwärterin) Zerbinen den Kaffee aufs Zimmer. Der Herr des
Hauses war eben mit seiner ganzen Familie zu einem Landfestin zwei
Stunden vor der Stadt herausgefahren, von dem er vor Abend nicht
wiederkam. Zerbin hatte den Morgen einem Bürger, der ihm zu einem
Spazierritt schon vor einer Woche das Pferd geliehen, den letzten
Groschen aus dem Beutel gegeben; es fiel ihm, als er sie tanzend
hereintreten sah, ein, indem die Empfindung des Mangels kalt und
grauenvoll über ihm schwebte, dieses gutartige holde Geschöpf könne
wohl in dem Augenblick ebenso bedürftig sein, und aus Größe der
Seele, oder aus jungfräulicher Schüchternheit, ihren Verdruß über das
lange Außenbleiben seiner Bezahlung verbeißen: er fragte sie also mit
einem ziemlich verwilderten Gesicht: "Jungfer! ich bin Ihr ja auch noch
schuldig; wieviel beträgt's denn?"
Ob sie nun aus seiner Miene geschlossen, daß ihm die Bezahlung itzt
wohl schwerfallen dürfte, oder ob etwas in ihrem Herzen für ihn sprach,
das nur wünschte durch eine Handlung der Aufopferung sich ihm
weisen zu können--genug, sie wußte mit einer so eigenen Naivetät ein
erstauntes Gesicht anzunehmen, die Hände so bescheiden zu falten, so
beklemmt zurückzutreten, daß Zerbin selber drüber irreward. "Sie mir
schuldig, mein Herr? seit wann denn?--Woher denn?"--"Hat Sie mir
nicht fünf Gulden von Ihrem Lohn geliehen--und nachher noch fünfe
von Ihrer guten Freundin verschafft?"--"Sie träumen. Ich glaube, die
gelehrten Herren haben zuweilen Erscheinungen."--"Ich muß es Ihr

bezahlen, Jungfer. Ich will meine Uhr versetzen."--Um meinen
Leserinnen und Lesern dieses Betragen unserer artigen Bäuerin in ein
besseres Licht zu setzen, müssen wir hier erinnern, daß sie Tochter
eines der reichsten Schulzen aus einem benachbarten Dorf war, und
nicht sowohl wegen des Lohns, als wegen alter Verbindlichkeiten, die
ihr Vater dem Herrn vom Hause hatte, bei ihm diente.
Sie setzte sich hierauf in eine noch feierlichere Stellung, und tat die
schrecklichsten Schwüre, daß er ihr nichts schuldig wäre; er sprang auf,
weinte für Scham, Wut und Dankbarkeit; sie fing mit an zu weinen,
sagte, wenn er wieder was nötig hätte, sollte er sich nur an sie wenden,
sie hätte einen reichen Vaterbruder in der Vorstadt, sie würde schon
Mittel finden, etwas von ihm zu bekommen; er schloß sie in seine
Arme; ihr bebenden Lippen begegneten sich--Einsamkeit, Stille,
Heimlichkeit, tausend angsthafte, freudenschaurige Gefühle
überraschten sie; sie verstummten--sie gleiteten--sie fielen.
Diese Trunkenheit des Glücks war die erste und einzige, die Zerbinen
für seine Lebenszeit zugemessen war, um ihn in desto tieferes Elend
hinabzustürzen. Zwar wußten beide auch nachmals noch Gelegenheit
zu finden, ihre Zärtlichkeiten zu wiederholen; aber wie der erste Schritt
zum Laster, so mit Rosen bestreut er auch sein mag, immer andere nach
sich zieht, so ging es auch hier. Zerbins hohe Begriffe von der
Heiligkeit, aufgesparten Glückseligkeit, von dem Himmel des
Ehestandes verschwanden. Die Augen fingen ihm, wie unsern ersten
Eltern, an aufzugehen, er sah alle Dinge in ihrem rechten Verhältnis,
sah bei der Ehe nichts mehr, als einen Kontrakt zwischen zwei Parteien
aus politischen Absichten. Hortensia und ihr steifes Betragen hatte nun
in seinen Augen gar nichts Widriges mehr, da der Vater eine
ansehnliche Stelle im Magistrat bekleidete, und zehntausend Taler
mitgeben konnte: er ward vernünftig. Er hatte die Liebe seiner Marie
zum voraus eingeerntet; Liebe schien ihm nun ein Ingrediens, das gar
nicht in den Heiratsverspruch gehörte; die große Weisheit unserer
heutigen Philosophen ging ihm auf, daß Ehe eine wechselseitige
Hülfleistung, Liebe eine vorübereilende Grille sei; eine Mißheirat
schien seinem aufgeklärten Verstande nun ein ebenso unverzeihbares
Verbrechen, als es ihm ehemals der Ehebruch und die Verführung der
Unschuld geschienen hatten. In ein Dörfchen zu gehen, und mit seinem
freundlichen Mariechen Bauer zu werden--oder dem Vorurteil aller

honetten Leute in Leipzig Trotz zu bieten und seine schöne Bäuerin im
Angesicht all seiner galanten Bekanntschaften zu heiraten--welch ein
unförmlicher Gedanke für einen Philosophen, dem itzt erst die Fackel
der Wahrheit zu leuchten anfing, der itzt erst die Beziehungen der
Menschen, die Abweichungen der Stände, die Torheiten phantastischer
junger Leute, die Irrtümer der Phantasei, und das unermeßliche Gebiet
der Wahrheit im echtesten Licht
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