Zerbin | Page 6

Jacob Michael Reinhold Lenz
Kummer gesellt, der durch keine
Leidenschaft mehr veredelt wird. Alle seine Gelehrsamkeit hatte aus
seinem Kopf Abschied genommen; er mußte wie ein Schulknabe
wieder von vorn anfangen, und, was das schlimmste war, stellte sich
ihm Renatchen, und alle mit ihr sich eingebildete Freuden, wie eine
feindselige Muse, bei jedem Schritt im Wege, und riß, wie jenes

Ungewitter vor Jerusalem, in der nächsten Stunde alles wieder ein, was
er in der vorigen mit Mühe gebaut hatte. Meine Leserinnen werden
vielleicht bei dem ersten wahren Gemälde einer Männerseele erstaunen,
vielleicht aber auch bei ernsthafteren Nachdenken den Unglücklichen
bedauren, der das Opfer einer so unredlichen Politik ward. Wie gesagt,
seine Schüler verließen ihn; der Mangel nagte und preßte; er geriet in
Schulden--und das--weil er zu verschämt, zu stolz--vielleicht auch zu
träge war, jemand anders anzusprechen, bei seiner Aufwärterin, die er,
sobald er sich das Herz genommen haben würde, Altheimen zu mahnen,
mit Interessen zu bezahlen hoffte, sich also dadurch die Erniedrigung
ersparte, andern Leuten Verbindlichkeiten zu haben.
Altheim wußte indessen allen Wendungen Renatchens zu einem
förmlichen Heiratsverspruch so geschickt auszuweichen, daß sie es
endlich müde ward, auf neue Kunstgriffe zu sinnen, und sich lieber der
angenehmen Sicherheit überließ, die die größten Helden des Altertums
so oft vor dem Ziel aller ihrer Unternehmungen übereilte. Sie suchte
nun aus seiner Leidenschaft alle nur mögliche Vorteile für den
gegenwärtigen Augenblick zu ziehen, und, da der Graf nichts weniger
als geizig war, verschwendete er unermeßliche Summen, ihr tausend
Abwechselungen von Vergnügen zu verschaffen. Beide dachten an
Vermeidung des Argwohns und an die Zukunft nicht; böse Zungen
sagten sogar schon in der Stadt sich ins Ohr, ihre Bekanntschaft sei von
sichtbaren Folgen gewesen. Ein Teil dieser Nachreden mochte sich
auch wohl von Hohendorf herschreiben; sie bekamen sie selber zu
Ohren, ohne sich darüber sehr zu kränken, oder ihre Aufführungen
behutsamer einzurichten, so daß man am Ende Renatchen überall nur
_die Gräfin_ nannte.
Zerbin hörte diese Benennung und viel ärgerliche Anekdötchen in allen
Gesellschaften, die er noch besuchte; seine Göttin so von ihrer Würde
herabsteigen, so tief erniedrigt zu sehen, konnte nicht anders, als den
letzten Keim der Tugend in seinem Herzen vergiften. Er suchte sich
eine bessere Meinung vom Frauenzimmer zu verschaffen, er suchte
sein Herz anderswo anzuhängen; es war vergeblich. Der Herr des
Hauses, das er und der Graf zusammen bewohnten, hatte eine Tochter,
die dem Bücherlesen ungemein ergeben war, und sich zu dem Ende
ganze Wochen lang in ihr Kabinett verschloß, ohne sich anders als
beim Essen sehen zu lassen. Er beredete den Grafen, ihm bei seinem

Hausherrn die Kost auszudingen, welches der mit Freuden tat, weil
dieser Tisch wohlfeiler, als der im Gasthofe, war, und er zu seinen
verliebten Verschwendungen jetzt mehr als gewöhnlich zu sparen
anfing. Zerbin suchte bei Hortensien (so hieß die Tochter seines Wirts)
wenigstens den Trost einer gesellschaftlichen Unterhaltung--aber leider!
mußte er auch hier die gewöhnliche Leier wieder spielen sehen. Sie
legte alles, was er redte und tat, als Anstalten zu einer nähern
Verbindung mit ihr aus, zu der sie denn auch nach der gewöhnlichen
Taktweise einen Schritt nach dem andern ihm entgegen tat. Es ist ein
Mann, sagten alle ihre Blicke, alle ihre Mienen, alle ihre dahin
abgerichteten, ausgesuchten, in ihrem Kabinett ausstudierten Reden; er
will dich heiraten! Du wirst Brot bei ihm finden; es ist doch besser Frau
Magistern heißen, als ledig bleiben, und er denkt honett. Er dachte aber
nicht honett; er wollte diese steifen, abgezirkelten, ausgerechneten
Schritte in den Stand der heiligen Ehe nicht tun, so sehr Algebraist er
auch war--er wollte lieben. Er wollte Anheften, Anschließen eines
Herzens an das andere ohne ökonomische Absichten--er wollte keine
Haushälterin, er wollte ein Weib, die Freude, das Glück, die Gespielin
seines Lebens; ihre Absichten gingen himmelweit auseinander; er
steuerte nach Süden, sie steuerte nach Norden; sie verstunden sich kein
einzig Wort. Doch glaubte sie ihn zu verstehen; alle seine
Gefälligkeiten, alle seine Liebkosungen (denn was liebkost nicht ein
Mensch in der Verzweiflung?) beantwortete sie mit einer stumpfen,
kalten Sprödigkeit, die ihn immer entweder mit Blicken, oder wohl gar
mit Worten, auf den Ehestand hinauswies, als ob bis dahin keine
Verschwisterung der Herzen möglich, oder vielmehr, als ob sie von
keiner andern, als die hinter den Gardinen geschieht, einige Begriffe
hätte. Der arme Mensch ging drauf, verzehrte sich in sich selber. Er
mußte etwas lieben--Hier fing das Schreckliche seiner Geschichte an.
Seine Aufwärterin war ein junges, schlankes, rehfüßiges, immer heitres
und lustiges Mädchen. Ihre Gutherzigkeit war ohne Grenzen, ihr
Wuchs so schön als er sein konnte, ihr Gesicht nicht fein, aber die
ganze Seele malte sich darin. Diese Ehrlichkeit, dieses sorgenfreier
unendlich Aufmunternde in ihrem Auge verbreitete Trost und Freude
auf allen Gesichtern, die sie ansahen; lesen mochte sie nicht, aber desto
lieber tanzen, welches ihre Lebensgeister in der ihr so unnachahmbaren
Munterkeit erhielt. In der Tat war ihr gewöhnlicher Gang fast
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