Zerbin | Page 5

Jacob Michael Reinhold Lenz

seinem Herzen nie Luft lassen durfte und der verborgene Gram desto
giftiger mit Skorpionenklauen dran zwickte. Er sah nun deutlich aus
der plötzlichen Verwandlung Renatchens gegen ihn, daß alle ihre
Anlockungen nur ein blinder Angriff gewesen waren, der eigentlich
seinem Herrn gegolten hatte. Die Wunde war geschlagen, er
blutete--und niemand hatte Mitleiden mit ihm. Sie tat kalt, spröde,
bisweilen gar verächtlich gegen ihn, um ihn völlig aus seinem Irrtum
nüchtern zu machen, nur, wenn sie merkte, daß sein Stolz zu tief
gekrümmt worden war, bekam er einen aufmerksamen Blick, um nicht,
wie Petrarch sagt, die Demut, die zu tief hinabgedruckt wird, zur Wut
zu entflammen. Wer war unglücklicher, wer war erleuchteter, als er itzt,
über die große Triebfeder weiblicher Seelen? Er sah, daß kein andrer
Weg für ihn übrig war, noch bei vollem Verstande zu bleiben, als das

Haus auf immer zu meiden, und seinen Wohltäter in dem Besitz der
schönen Beute zu lassen. Er setzte sich's fest vor, brach es ein paarmal,
setzte sich's wieder vor, schwur sich's, bis er endlich Meister über sich
ward, und nun von Altheimen im Namen seiner Geliebten große
Vorwürfe darüber erwartete: aber leider! man vermißte ihn nicht
einmal.
Itzt nahm sein Schicksal eine tragischere Wendung. Daß des Menschen
Herz ein trotzig und verzagtes Ding sei, ist ein Gemeinspruch, der auch
den Allereinfältigsten auf den Lippen schwebet, den aber, wenn er sich
an uns selbst wahr macht, kein menschlicher Scharfsinn, wär' es auch
des größtmöglichen universellsten Genies, daß ich so sagen mag, auf
der Tat ertappen, und ihm mit gehörig zubereiteter Brust begegnen
kann. Wir schwanken immer, müssen zwischen Hoffnung und
Verzweiflung schwanken; die am kühnsten beflügelte Seele schwankt
desto fürchterlicher. Glücklich, wessen starkgewordene Vernunft in
dieses Schwanken selbst ein gewisses Gleichgewicht zu bringen weiß!
Zerbin verzagte nun an sich und an der Möglichkeit geliebt zu werden,
das gewöhnliche Schicksal der edelsten Seelen, die ihr Unglück nicht
zufälligen Umständen, sondern ihrer eigenen Unwürdigkeit
zuzuschreiben so geneigt sind. Der Geck weiß sich aus einer solchen
Verschiebung sehr geschwind herauszufinden, bei dem edlen Mann
aber frißt sie, wie ein Wurm, an der innern Harmonie seiner Kräfte.
Alle seine langgehegten und gewarteten Vorstellungen, Empfindungen
und Entwürfe liegen nun auf einmal, wie auf der Folter ausgespannt,
verzerrt und zerrissen da; der ganze Mensch ist seiner Vernichtung im
Angesicht. Er erholte sich zwar wieder, seine Seele nahm ihre vorige
Schnellkraft wieder, aber nur um desto empfindlicher und untröstbarer
zu leiden.
Unterdessen nahmen die Negoziationen zwischen Altheim und
Renatchen ihren erwünschten Fortgang, und Hohendorf, der dieses nur
zu bald inneward, verzweifelte darüber. Er kam oft zu Zerbinen, der,
hinter zugezogenen Fenstergardinen, in mathematischen Büchern
vergraben saß, in denen er leider! oft den ganzen Tag emsig las, ohne
doch zwei Zeilen zu verstehen, auch an die erste Seite immer wie
gebannet blieb, so sehr hatten seine Gedanken, wie ausgerissene
unbändige Hengste, einen andern Weg genommen. Das Studium lag;
alle seine Schüler verließen ihn; Hohendorf allein blieb ihm, doch mehr

um ihm seine Not zu klagen, als Festungen erobern zu lernen. Zerbin
hörte alle seine Klagen, Verwünschungen, Schmäh- und Lästerungen
über Altheim und Renatchen mit großer Geduld an, und hatte nie das
Herz, die seinigen dazuzufügen, sondern akkompagnierte ihn aufs
höchste mit einigen halberstickten Seufzern, oder einem frostigen
Lachen und einer so sokratischen Miene, daß er den Scharfsichtigsten
selber betrogen haben würde, weil er fest entschlossen war, und einen
gewissen Reiz drin fand, sich mit dieser erkünstelten Gleichgültigkeit
das Herz abzustoßen.--Äußere Umstände kamen dazu; Altheim blieb
der warme, sorgsame Freund nicht mehr für ihn; zwei Passionen
können das Herz eines gewöhnlichen Menschen nie zu gleicher Zeit
beschäftigen; dazu kam eine gewisse Art von Zurückhaltsamkeit gegen
ihn, weil er ihn selbst in Renatchen verliebt gewußt hatte. Ihr Umgang
war kalt, trocken, mürrisch; er ging des Morgens früh aus dem Hause,
und kam des Nachts spät heim; sie wurden sich so fremd, daß sie sich
füreinander zu fürchten anfingen. Der Tod der Freundschaft ist
Mißtrauen: seine Wechsel kamen an; er vergaß Zerbinen die Pension
auszuzahlen; Zerbin war zu stolz, ihn zu mahnen; er wollte sich im
geringsten nicht bloß geben, daß er die Veränderung seines Herzens
gegen ihn merkte. Das Gefühl der Freundschaft ist so zart, daß der
geringste rauhe Wind es absterben macht, und oft in tödlichen Haß
verwandelt; die Liebe zankt und söhnt sich wieder aus; die
Freundschaft verbirgt ihren Verdruß, und stirbt auf ewig. Zwei Freunde
sehen nur ein anders gestaltetes Selbst aneinander; sobald diese
Täuschung aufhört, muß ein Freund vor dem andern erblassen und
zittern.
Zerbin, der außer Wohnung und Tisch nichts frei hatte, fing an, die
Notwendigkeit einzusehen, seinem Schmerz, dessen Gegenstand nicht
edel genug war, ihn auf die Länge bei sich selbst zu rechtfertigen,
einige Zerstreuung zu geben. Er wollte das Schauspielhaus, die
Kaffeehäuser besuchen, um nicht von dem Alp Hypochonder erdrückt
zu werden, der sich so gern zu einem
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