nicht um heruntergekommene Kräfte,
sondern um den völligen Mangel derselben von Anfang an. Ob unsere
Bergluft Wunder tun kann, wollen wir sehen; ohne ein solches ist keine
Hilfe.«
Diese Nachricht stimmte die Frauen sehr traurig; sie hatten ja beide
gesehen, wie schwer der armen Mutter die Trennung von ihrem Kinde
werden würde. Sie hielten beide noch an der Hoffnung fest, die
stärkende Luft werde ihre wohltuende Wirkung auf das kranke Kind
um so eher ausüben, als sie für dasselbe ganz neu und ungewohnt war.
»Emmi soll das Kind besuchen und es kurzweilen und aufheitern«,
sagte der Doktor wieder; »die hat ja immer zuviel Zeug im Kopf, da
kann sie etwas ablagern und stiftet unterdessen keine ihrer beliebten
Unternehmungen an, die alle in irgendein Unheil auslaufen. Dieses
Wesen wird sie höchstens zum Erstaunen bringen, aber gewiß zu keiner
Mitwirkung hinreißen; so ist es für beide gut, wenn sie recht oft
hingeht.«
Die Mutter stimmte bei, Emmi sollte so oft als möglich die kranke
Nora besuchen; der Gedanke war der Mutter selbst sehr lieb; sie
zweifelte nicht daran, daß zwischen den Kindern ein
Freundschaftsverhältnis entstehen werde, das für beide sehr wohltätig
werden müßte. Die stille, zarte Nora könnte einen besänftigenden
Einfluß auf das rasche und stürmische Wesen ihrer Emmi ausüben, und
diese mit ihrer frischen, lebendigen Weise müßte neue, frohe Gedanken
und Erheiterung in das einförmige Leben der jungen Kranken bringen.
Als später der Doktor auf seiner Stube noch allerlei Vorbereitungen für
den folgenden Tag traf, saßen Mutter und Tante wie gewöhnlich beim
großen Flickkorb zusammen, besprachen die Ereignisse des Tages und
erzählten sich gegenseitig alle Erlebnisse, die sie heute mit den Kindern
gehabt, und alle Beobachtungen, die sie an ihnen gemacht hatten. Dies
war für die Schwestern die einzige Zeit des Tages, daß sie zu einem
ruhigen Aussprechen kamen, was ihnen ein großes Bedürfnis war; denn
da waren so viele Angelegenheiten, für die sie gemeinschaftlich lebten
und handelten. Vor allem die Kinder mit all ihren Freuden und
Schmerzen, ihren Wünschen und Bedürfnissen, dann die Kranken, die
von nah und fern ins Haus kamen, und endlich alle Trost- und
Hilfsbedürftigen der ganzen Umgegend, die mit allen ihren
Bedrängnissen dahin kamen, wo sie einer warmen Teilnahme und der
Unterstützung mit Rat und Tat allezeit sicher waren. So hatten Mutter
und Tante an diesem wie an jedem anderen Abend so viele Dinge zu
verhandeln und zu besprechen, daß unter ihren fleißigen Händen die
Haufen der heilsbedürftigen Strümpfe im großen Flickkorb unbemerkt
zusammenschmolzen und Mutter und Tante sich endlich eines späten,
aber wohlverdienten Feierabends freuen konnten.
[Illustration]
Drittes Kapitel.
Im Dorf und in der Schule von Buchberg.
Das Dorf Buchberg bestand aus vielen zerstreuten Bauernhöfen und
größeren und kleineren Gruppen von Häusern und Häuschen, die da
und dort hinter den reichbelaubten Fruchtbäumen hervorguckten. In der
Nähe der Kirche standen nur einige Häuser: das Schulhaus, die
Küsterwohnung, das feste alte Haus des Gemeindepräsidenten und
einige kleinere Bauernhäuser. Für sich allein in einiger Entfernung, der
waldigen Anhöhe zu, stand das Haus des Arztes. Die größten Gebäude
von Buchberg aber standen unten an der großen Landstraße, die
ungeheure Fabrik und daneben das geräumige Haus des Fabrikbesitzers,
der beide Gebäude selbst hatte errichten lassen. Zwischen der
Landstraße und dem Wohnhause lag ein sehr sonnereicher Garten; da
war kein Baum noch Busch hineingepflanzt, denn so hätte man ja das
schöne Haus von der Straße aus nicht recht sehen können. Der Besitzer
dieses schönen Hauses und der Fabrik war der ausnehmend reiche Herr
Bickel, der mit seiner Frau und dem einzigen Sohne die unteren Räume
des Wohnhauses bewohnte, indes die oberen -- sechs große, prächtige
Zimmer -- immer fest abgeschlossen waren mit grünen, glänzenden
Jalousieladen. Da kam auch nie ein Mensch hinein, als nur Frau Bickel,
wenn sie hinging, den Staub von den schönen Möbeln wegzunehmen
und diese bei dem Anlaß mit stiller Feierlichkeit zu bewundern. In
solchen Augenblicken durfte auch das Söhnchen etwa eintreten,
nachdem es seine Schuhe vor der Tür hatte ausziehen müssen, und so
stand es dann in dem Halbdunkel mit einer Art andächtigen Schauers
und starrte die unentweihten Sessel und Kommoden an. Herr Bickel
war ein sehr angesehener Mann in der Gemeinde, denn in seiner Fabrik
fanden viele große und kleine Leute Arbeit, welche Herr Bickel
hinwiederum sehr wohl zu gebrauchen wußte. Er war auch so eifrig in
seinem Geschäft, daß er jeden Menschen darauf ansah, ob er in seiner
Fabrik zu gebrauchen wäre oder nicht, und ihn je nach dieser
Eigenschaft oder dem Mangel derselben schätzte. Auch wenn in
Buchberg ein Kind auf die Welt kam, berechnete er gleich, in welchem
Jahr es unter die Zahl seiner Arbeiter könnte aufgenommen werden.
Fast alle Kinder in Buchberg wußten auch, daß sie einmal unter die
Herrschaft des Herrn Bickel kommen würden, und wichen immer scheu
und respektvoll zur Seite, wenn er daherkam mit dem dicken Stock, auf
dem ein großer,
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