Wo Gritlis Kinder hingekommen sind | Page 7

Johanna Spyri
seinem Buch unterm Arm. Er setzte sich sogleich so nah als
möglich zu der Tante hin und schlug das Buch auf. »Das ist gut, daß du
da bist, Tante, die Mama hat gar nicht zu Ende hören können, und es ist
ein gar merkwürdiges Tier, ich hatte ein prachtvolles Exemplar
gefangen. Aber du mußt nicht zu kurz kommen, Tante, morgen such'
ich schon wieder einen und bring' ihn dir.«
»Nein, nein!« schrie das Rikli auf; »sag nein, Tante, er springt einem
fast ins Gesicht und hat gelbe Augen, wie ein Drache und --«
Fred hatte aus seiner leeren Hand eine Faust gemacht, hielt diese
plötzlich dem Rikli vor das Gesicht und schnellte sie auf; mit Geschrei
sprang das Kind weg und zur Tür hinaus. »So, jetzt kann man doch
ruhig lesen«, sagte Fred, befriedigt über die Wirkung, legte seine Hand
auf das Buch und begann: »Der grüne oder Wasserfrosch, #esculenta#
--«

In dem Augenblick ging drüben die Tür auf, man hörte Schritte und
Stimmen.
»Komm«, sagte die Tante, »wir müssen das kranke Kind abfahren
sehen, wir kehren nachher zum Frosch zurück.« Sie ging ans Fenster.
Auf das Gesicht der Tante kam ein trauriger Ausdruck, als sie sah, wie
das Kind in den Wagen gehoben wurde.
»O, wie blaß und krank sieht das liebliche Gesichtchen aus! Du armes
Kind! Nein, du arme Mutter!« korrigierte sie sich, als ihr Blick auf die
Dame fiel, die herzlich der Hausfrau die Hand drückte, während ihr
große Tränen die Wangen hinabflossen. »Ach Gott!« seufzte die Tante
noch einmal. Der Wagen rollte fort. Fred hatte sein Buch wieder
ergriffen; aber die Geschichte des Frosches konnte nicht mehr
aufgenommen werden, denn jetzt kam die Mutter herein und war sehr
erregt von dem eben Erlebten. Sie mußte gleich der Tante Mitteilung
davon machen, hatte diese doch von jeher alles mit ihr durchgelebt, was
in Freud' oder Leid sie bewegte. Die Tante gehörte auch so ganz und
gar zu ihrem Haus, daß die Kinder alle sich ein Haus ohne Tante
eigentlich gar nicht vorstellen konnten, denn diese war doch so
notwendig da wie ein Papa und Mama. Fred nahm schnell der Tante
noch das Versprechen ab, vor dem Augenblick des Aufrufs zum
allgemeinen Rückzug nach den Nachtquartieren noch die Lebensweise
des Frosches anhören zu wollen; dann befolgte er die Anweisung der
Mutter, sich ein wenig hinauszubegeben. Die Mutter erzählte nun,
welche tiefe Teilnahme die fremde Dame, Frau Stanhope, und ihr
krankes Töchterchen ihr eingeflößt haben. Sie fand, das zarte
Geschöpfchen mit den großen, blauen Augen und dem feinen, farblosen
Gesichtchen sehe aus, als ob es nur noch halb der Erde angehöre. Die
arme Mutter aber könne sichtlich diesen Gedanken nicht ertragen, denn
schon beim ersten Wort der herzlichen Teilnahme, das sie, die
Doktorsfrau, ihr ausgesprochen hatte, sei sie in schmerzliche Tränen
ausgebrochen und habe gesucht, sich selbst zu täuschen mit dem Trost,
die Reise habe ihre Nora so sehr angegriffen, daß sie nun gar so blaß
und durchsichtig aussehe. Jetzt in der frischen Bergluft werde es gewiß
bald anders werden, darauf hatte sie ihre ganze Hoffnung gesetzt.

Soweit hatte die Mutter berichtet, als sie den Hufschlag eines Pferdes
vernahm; sie wußte, es war ihr Mann, der von seinen ärztlichen
Besuchen heimkehrte. Augenblicklich ging sie ihm entgegen und
benachrichtigte ihn davon, daß die erwartete Dame mit dem kranken
Kinde angekommen sei. Der Doktor machte sich auch, nachdem er
vom Pferde gestiegen, gleich wieder auf den Weg, um seinen ersten
Besuch bei der neuen Patientin zu machen. Er hatte eine Wohnung
gefunden, die, soweit es überhaupt in dieser ländlichen Gegend
möglich war, den Wünschen entsprach, welche sein Freund, der Arzt
am Rhein, für die Kranke und ihre Mutter ausgesprochen hatte. Erst
spät am Abend kehrte der Doktor wieder zurück, als die Kinder schon
verschwunden waren, nicht ohne daß Fred noch seinen Zweck erreicht
hatte. Die letzte halbe Stunde lang war er unausgesetzt mit seinem
Buch unterm Arm der Tante auf Schritt und Tritt nachgegangen, um
den geeigneten Augenblick zur Mitteilung wahrzunehmen, was heute,
wie schon öfter, längere Zeit erforderte, denn die Tante war wieder
einmal von allen Geschwistern zugleich in Anspruch genommen,
während auf der einen Seite die Mutter und auf der anderen die Kathri
zu gleicher Zeit noch einen Rat von ihr begehrten. Aber Fred hatte viel
Beharrlichkeit und er konnte auch heute sich beruhigt niederlegen,
denn er hatte die Tante trotz allen Nebenansprüchen an sie noch mit
den sämtlichen Lebensbedingungen des Wasserfrosches bekannt
gemacht.
Der Doktor hatte sich jetzt zu seinem Nachtessen gesetzt. Mutter und
Tante saßen neben ihm und erwarteten mit Spannung seine
Mitteilungen über die junge Kranke: wie er ihren Zustand gefunden
habe und ob er die Hoffnung hege, der Sommeraufenthalt werde die
gewünschte Genesung bringen. Aber der Doktor schüttelte den Kopf.
»Da ist wenig zu hoffen«, sagte er, »es ist keine Lebenskraft in dem
Pflänzchen. Es handelt sich
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