Wo Gritlis Kinder hingekommen sind | Page 4

Johanna Spyri
hineinbot. Jetzt rollte
dieser die weiße Straße entlang und Klarissa trocknete sich die Tränen
weg, die sie im letzten Augenblick nicht mehr zurückzuhalten
vermocht hatte. Mit gefalteten Händen trat sie in das stille Haus zurück,
und leise sagte sie vor sich hin:
»Die kennen keine Tränen mehr, Die kennen lauter Freude.«
[Illustration]

Zweites Kapitel.
Im Hause des Arztes.
Die Abendsonne schien lieblich auf die hellgrünen Blättchen der
jungen Gemüse, welche in den zwei großen Beeten, die an den
Blumengarten grenzten, emporkeimten und eine besondere Freude der
Hausfrau waren. Wenn sie auch mit größerer Wonne zwischen all den
duftenden Blumen des Gartens hin und her ging, so schaute sie doch

immer zum Schluß mit einer besonderen Teilnahme nach den grünen
Kräutchen, die sie alle selbst gesät und vom ersten zarten Keime an
bewahrt und gepflegt hatte. Der Blumenkohl schien in diesem Jahr
besonders wohl geraten zu wollen, denn mit großem Wohlgefallen
schaute die Besitzerin auf ihre junge Pflanzung hin, die weithin frisch
und unberührt dastand; nirgends waren die verderblichen Spuren
gefräßiger Raupen zu sehen.
»Guten Abend, Frau Doktorin«, tönte es jetzt vom Wege herüber, der
durch eine Hecke von den Beeten getrennt war. »Sie haben doch immer
das schönste Gemüse; man sieht wohl, daß dazu gesehen wird.«
Die Frau Doktorin war an die Hecke hingetreten, und über diese herein
streckte jetzt der Taglöhner Heiri seine schwielige Hand, denn er war
ein alter Bekannter und wußte wohl, daß er das Recht zu einem guten
Händedruck hatte. Er war ja schon mit der Frau Doktorin zur Schule
gegangen, und wie oft war er seitdem bei ihr eingekehrt, um Trost und
Rat von ihr zu empfangen!
Sie erwiderte freundlich seinen Gruß und fragte dann teilnehmend:
»Und wie geht's denn, Heiri; immer viel Arbeit? Ist alles wohl zu
Hause, Frau und Kinder?«
»Ja, ja, gottlob!« entgegnete Heiri, indem er die schweren Werkzeuge,
die er auf der Schulter trug, auf den Boden legte; »Arbeit gibt's immer,
ich muß mit dem Zeug noch in die Schmiede. Aber es braucht auch
Arbeit, die Haushaltung wächst an.«
»Eure drei kleinen Buben sehen gut aus, ich habe sie gestern wieder
gesehen mit dem Elsli«, fuhr mit freundlicher Teilnahme die Frau
Doktorin fort. »Aber das Kind, das Elsli, ist gar so bleich und
schmächtig. Ihr vergeßt doch nicht, woran seine Mutter gestorben ist,
Heiri? Man darf das Kind gewiß nicht überanstrengen, es ist zu zart und
jetzt im strengsten Wachsen. Ihr müßt beizeiten dazu sehen, Heiri, Ihr
habt's erfahren, wie bald es mit einem jungen Leben aus sein kann.«
»Ja, ja, das hab' ich, und das vergess' ich auch nicht, wie's war! Ich
konnte es nicht sehen, wie sie das Gritli in den Boden hineintaten, so

jung noch, so jung! Die Marget ist eine währschafte Frau und brav,
aber das Gritli kann ich doch nicht vergessen.« Heiri wischte mit seiner
Hand ein paar Tränen weg.
Der mitfühlenden Frau kamen auch die Tränen in die Augen. »Ich
vergesse es auch nicht, Heiri; wie gern wäre das arme Gritli noch bei
Euch und seinen zwei kleinen Kindern geblieben. Es ging auch so
unerwartet schnell mit ihm. Freilich sah es ja immer dünn und
schmächtig aus, und ich kann sein Kind, das kleine, gute Elsli, nie
sehen, ohne daß es mir Sorge macht, ob es auch nicht zu sehr
angestrengt wird; es kann nicht viel aushalten, das ist wohl zu sehen.«
»Ja, es ist schon ein Schmales und Mageres«, stimmte Heiri bei, »aber
sonst schlägt es mehr mir nach, es ist so nicht gerade das Hurtigste und
so eher überdacht. Der Bub' ist sonst mehr wie das Gritli selig und hat
immer so etwas im Kopf und sitzt nicht gern still, und dann kann er's
nicht leiden, wenn die kleinen Buben nicht gerade besonders sauber
sind, und sagt etwa, man müsse sie alle drei unter die Brunnenröhre
stellen, denn darin ist er punktum wie das Gritli selig; er kann nicht
sehen, was wüst ist und unsauber. Aber dann fangen die Buben an zu
rufen und zu schreien, bis die Mutter kommt, und dann gibt's noch
mehr Spektakel, und so komm' ich fast nie heim am Abend, daß mir die
Marget nicht sagt, ich müsse dem großen Buben Ohrfeigen geben, weil
er die Kleinen immer plage und mache, daß sie von der Arbeit weg
müsse. Aber wenn der Bub' dann so vor mir steht und mich akkurat mit
seinen Augen ansieht, wie das Gritli tat, so kann ich ihm keine
Ohrfeige geben; das macht dann die Marget bös und es gibt scharfe
Worte, und mir ist es auch nicht recht, weil sie sonst eine brave und
schaffige Frau ist. Ich habe schon manchmal gedacht, wenn Sie ihr
etwa über die Ohrfeigen ein Wort sagen wollten, Frau Doktorin, so
wäre ich froh; sie würde eher auf Ihre Worte hören, und Sie haben ja
auch Buben aufzuziehen und
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