Staunen und in Wonne. Sie kommen aus
dem dunkeln Tal Ins Land der ew'gen Sonne.
Und ziehen selig hin und her Und wissen nichts von Leide, Die kennen
keine Tränen mehr, Die kennen lauter Freude.«
Als Klarissa geendet hatte, war eine Zeitlang alles still; Nora schien in
Gedanken vertieft zu sein.
»Klarissa«, sagte sie nach einer Weile, »das ist so schön, und macht
mir so große Lust, zu gehen.«
»Geh nur gern, du liebes Kind, ja geh nur gern«, sagte Klarissa mit
Tränen der Freude in den Augen, »dann wandelst auch du fröhlich
unter den leuchtenden Blumen hin und singst:
'Wir kennen keine Tränen mehr, Wir kennen lauter Freude.'
Und wir kommen dir bald nach, erst ich, und dann die Mama.«
In diesem Augenblick trat die Mutter herein. Klarissa stockte, sie wußte
ja wohl, Frau Stanhope konnte den Gedanken nicht ertragen, daß Nora
sie verlassen und in den Himmel gehen könnte. Aber die Mutter hatte
die letzten Worte der Klarissa wohl verstanden und schaute mit
erneuter Sorge auf ihr Kind, das sie auch so blaß und müde aussehend
fand, daß sie gleich darauf drang, es sollte zur Ruhe gebracht werden,
was dann auch ausgeführt wurde.
Als am späten Abend die Mutter mit der alten Freundin allein noch im
Zimmer saß, begann sie ängstlich zu fragen, was denn Klarissa dazu
gebracht habe, mit Nora solche Gespräche zu führen; das Kind sei doch
nicht so krank, daß man an das Allertraurigste denken müßte, und
warum denn davon reden.
»Nora wollte gern mein altes Lied hören«, entgegnete Klarissa, »und,
liebe Frau Stanhope, lassen Sie mich nur eins sagen: Wenn unser liebes
Kind so einsam und kraftlos fortleben sollte, was hätte es doch an
diesem Leben? Nicht das geringste von allen reichen Gütern, die es
umgeben, wird ihm zur Freude, ja nicht einmal einen kurzen Gang
durch den schönen Garten kann es genießen, alles wird ihm vergällt
und verwandelt sich dem armen Kinde in Schmerz und Leid. Sollten
wir ihm nicht die Heimkehr gönnen in ein schönes Land, wo kein Leid
und keine Schmerzen mehr sind?«
»Ich kann es nicht hören, Klarissa, ich kann es nicht ertragen, daran zu
denken, es kann nicht sein. Kann denn nicht alles noch ganz anders
werden und unsere Nora neue Kräfte bekommen?« jammerte die
Mutter, und so schmerzlich wurde sie von diesen Gedanken aufgeregt,
daß sie nicht weitersprechen konnte. Sie zog sich zurück, und mit
schwerem Herzen ging auch die treue Klarissa nach ihrem Gemache.
Bald stand das schöne steinerne Haus in dem herrlichen Garten still
und lichtlos da; aber von oben leuchtete der Mond darüber, und wer so
die hohen, weißen Säulen durch die dunkeln Bäume schimmern sah,
der dachte: »Dort drinnen muß es herrlich sein«; denn den Kummer,
der drinnen wohnte, konnte keiner sehen.
Frau Stanhope bewohnte ihr väterliches Haus am Rhein. Sie hatte sich
sehr jung nach England verheiratet und dort nach wenigen Jahren ihren
Mann verloren. So war sie mit ihren zwei kleinen Kindern, dem
lieblichen, braunäugigen Philo und der zarten, blondlockigen Nora, in
ihr väterliches Haus zurückgekehrt, das einsam und verlassen dastand,
denn ihre Eltern waren unterdessen beide gestorben, und Geschwister
hatte sie keine. Überallhin hatte die treue Klarissa, die Pflegerin ihrer
Kindheit, sie begleitet, und wie eine Mutter hatte sie ihr im fremden
Land über alles Neue und Ungewohnte hinweggeholfen und stand ihr
nun wieder im vereinsamten Vaterhaus als sorgende Mutter und
Pflegerin ihrer Kinder zur Seite. Mehrere Jahre waren so für die
friedliche Familie in dem schönen Landhause in Freuden und Sorgen
dahingegangen, denn die zarten Kinder ließen keine ungestörte
Fröhlichkeit aufkommen. Nun waren es bald zwei Jahre, als auf das
Haus ein tiefer Schatten gefallen war: der liebliche Philo hatte seine
fröhlichen braunen Augen für immer geschlossen und lag nun unter den
weißen Rosen begraben unten im Garten bei den alten Lindenbäumen.
Philo, der Bruder, war der Ältere gewesen, doch nur um ein Jahr der
Nora voran, die jetzt in ihrem elften Jahre stand. --
Etwas mehr als eine Woche mochte seit dem sonnigen Tage vergangen
sein, als der Arzt wieder erschien. Er hatte die gewünschte Auskunft
gefunden. Sein Freund selbst bewohnte eine waldumkränzte, gesunde
Berggegend. Er wollte den geeigneten Ort ausfindig machen, wo Frau
Stanhope mit ihrem Töchterchen in seiner Nähe den Sommer zubringen
konnte. Er war sicher, das Gewünschte zu finden; Frau Stanhope
konnte nach Belieben ihre Reise antreten und bei ihm erscheinen, es
mußte alles zu ihrem Empfang sich vorbereitet finden.
Gleich in den folgenden Tagen wurden alle Vorbereitungen zur Reise
getroffen. Klarissa sollte dableiben und das Haus verwalten; nur das
junge Zimmermädchen sollte mit auf die Reise genommen werden, und
schon acht Tage nachher saß Frau Stanhope mit ihrem Töchterchen im
Wagen, um die Reise nach der Schweiz anzutreten, begleitet von den
tausend Glück- und Segenswünschen, welche die sorgliche Klarissa
immer und immer noch einmal in den Wagen
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