verschiedenen Gliedern der
Dienerschaft zu lenken und zu regieren. Kaum war sie eingetreten, als
Mutter und Tochter ihr zugleich entgegenriefen: »O, Klarissa, es ist gut,
daß du kommst!« Und beide brachten nun ihre Angelegenheit vor, die
Mutter ängstlich fragend, ob sie meine, ein Gang durch den Garten
dürfte schon gewagt werden, das Töchterchen dringend bittend, sie
möchte doch ja sagen dazu. Die alte Klarissa war eine Persönlichkeit,
bei der jeder im ganzen Hause, von der Herrin bis hinunter zum jungen
Laufburschen, Rat und Hilfe suchte in jeglicher Not und Verlegenheit.
Wer auch nur einmal in die freundlichen, guten Augen der alten
Klarissa schaute, der mußte gleich ein Vertrauen zu ihr fassen, denn
jedes Menschenkind schaute sie liebevoll, wie mit den Augen einer
Mutter an. »Klarissa, sag, daß wir hinausgehen können«, bat das kranke
Kind noch einmal inständig.
»Liebe Frau Stanhope, wollen wir es nicht versuchen?« sagte nun
Klarissa, zu der Mutter gewandt. »Die Luft ist lieblich und alle Vögel
singen, als wollten sie uns hinausrufen.«
»Nun, wenn du denn meinst, Klarissa, so wollen wir es tun«, stimmte
die Mutter bei, und nun wurde der Friedrich herbeigeholt, der
langjährige Bediente; der hatte das kranke Töchterchen die Treppe
hinunterzutragen, damit es nicht schon ganz ermüdet im Garten
ankomme, denn seine Kräfte waren so bald erschöpft. Unten
angekommen, nahmen die beiden Frauen das Kind in ihre Mitte und
führten es durch den sonnigen Garten. Auf allen Zweigen zwitscherten
lustige Vögelein, die Rosen dufteten und ganze Scharen von bunten
Schmetterlingen flatterten fröhlich in der lauen Luft umher.
»Nora, fühlst du dich wohl hier?« fragte die besorgte Mutter.
»O ja, es ist so schön«, entgegnete das Kind, »aber ich möchte so gern
zu der steinernen Bank hinunter und in die Wellen schauen, wo die
Zweige hineintauchen.«
Der Weg wurde fortgesetzt, die grünen Rasenterrassen hinab bis unter
die alten Lindenbäume, wo die steinerne Bank stand, fast verborgen
von den tief herunterhängenden Ästen, deren blätterreiche Enden leise
auf dem schimmernden Wasser sich wiegten. Die Lindenbäume
standen in der Blüte und erfüllten ringsum die Luft mit süßem Duft.
Nora saß nun auf der Bank und schaute still den Zweigen im Wasser
und den forteilenden Wellen zu.
»O, wenn ich auch so fortziehen könnte, Mama; aber ich bin immer
müde. Ich möchte auch so flink umherhüpfen und so fröhlich singen,
wie die Vögel da oben in den Linden! O, es ist so schön da, aber ich bin
immer müde.«
»Liebes Kind, du wirst ja kräftiger werden«, tröstete die Mutter; aber
sie sah so aus dabei, als habe sie selbst am nötigsten, daß ihr der Trost
werde, den sie zu geben versuchte. »Heute kommt auch der Arzt, und
wir fragen ihn, was wir den Sommer zu deiner Stärkung tun sollen.
Jetzt müssen wir wohl wieder ins Haus zurückkehren; du bist so bleich
geworden, Nora, was ist dir?«
Nora versicherte, daß sie nur müde sei. Es war auch immer so: nach
jeder größeren Anstrengung kam auf ihr bleiches Gesichtchen eine
noch größere Blässe. Sie erreichte auch nur mit Mühe das Haus wieder,
und nachdem sie von Friedrich die Treppen hinaufgetragen worden war,
wurde sie auf das Sofa gelegt, wo sie eine Zeitlang ganz still und ohne
Regung lag, um von der Anstrengung auszuruhen.
Gegen Mittag kam der erwartete Arzt. Auf der Mutter eingehenden
Bericht über die überhandnehmende Kraftlosigkeit ihres Töchterchens
erklärte er, es müsse eine Luftveränderung stattfinden, und zwar die
Versetzung in eine stärkende Bergluft für den ganzen Sommer. Nach
einigem Nachsinnen fügte der Doktor bei, er werde sich gleich
schriftlich an einen Studienfreund wenden, der in der Schweiz lebe,
und ihn um Rat fragen, denn zu hoch hinauf dürfe die junge Kranke
auch nicht gebracht werden. Sobald er Antwort von seinem Freunde
erhalten hätte, würde er wiederkommen, um Frau Stanhope davon
Mitteilung zu machen. Damit verabschiedete sich der Arzt.
Gegen Abend saß Nora wieder in ihrem Lehnstuhl am Fenster und
schaute still mit müden Blicken hinaus, wo die Abendsonne goldene
Streifen über den grünen Rasen warf und die Rosenblätter
durchleuchtete, die hier und da von den Strahlen getroffen wurden. Die
alte Klarissa saß am Arbeitstischchen der Nora vorüber, und ihre treuen
Augen erhoben sich von Zeit zu Zeit von der Arbeit und folgten den
Blicken des kranken Kindes.
»Klarissa«, sagte Nora jetzt, »sag mir einmal wieder das alte Lied vom
Paradies.«
Klarissa legte ihre Arbeit weg. »Einmal wollen wir es wieder
zusammen singen, Kind, wenn du etwas kräftiger bist; jetzt will ich
dir's sagen«, und sie legte ihre Hände ineinander und begann:
»Es fließt ein Strom kristallenklar Durch immer grüne Auen, Da glänzt
der Lilien weiße Schar Im Duft, dem himmelblauen.
Und Rosen duften, Rosen glühn Auf sonnengoldner Wiese, Und Vögel
jauchzen laut im Grün: Wir sind im Paradiese!
Und immer milde Lüfte wehn Auf all den Blumenwegen, Und
Menschen wie im Traume gehn Und kommen sich entgegen.
Und grüßen sich allüberall In
Continue reading on your phone by scaning this QR Code
Tip: The current page has been bookmarked automatically. If you wish to continue reading later, just open the
Dertz Homepage, and click on the 'continue reading' link at the bottom of the page.