Wilhelm Meisters Wanderjahre, vol 3 | Page 7

Johann Wolfgang von Goethe
kommt mir vor wie ein Trauerspiel des Alfieri; da die
Vertrauten völlig ermangeln, so muß zuletzt alles in Monologen
verhandelt werden, und fürwahr, eine Korrespondenz mit Ihnen ist
einem Monolog vollkommen gleich; denn Ihre Antworten nehmen
eigentlich wie ein Echo unsre Silben nur oberflächlich auf, um sie
verhallen zu lassen. Haben Sie auch nur ein einzigmal etwas erwidert,
worauf man wieder hätte erwidern können? Parierend, ablehnend sind
Ihre Briefe! Indem ich aufstehe, Ihnen entgegenzutreten, so weisen Sie
mich wieder auf den Sessel zurück.

Vorstehendes war schon einige Tage geschrieben; nun findet sich ein
neuer Drang und Gelegenheit, Gegenwärtiges an Lenardo zu bringen;
dort findet Sie's, oder man weiß Sie zu finden. Wo es Sie aber auch
antreffen mag, lautet meine Rede dahin, daß, wenn Sie, nach gelesenem
diesem Blatt, nicht gleich vom Sitze aufspringen und als frommer
Wanderer sich eilig bei mir einstellen, so erklär' ich Sie für den

männlichsten aller Männer, d. h dem die liebenswürdigste aller
Eigenschaften unsers Geschlechts völlig abgeht; ich verstehe darunter
die Neugierde, die mich eben in dem Augenblick auf das
entschiedenste quält.
Kurz und gut! Zu Ihrem Prachtkästchen ist das Schlüsselchen gefunden;
das darf aber niemand wissen als ich und Sie. Wie es in meine Hände
gekommen, vernehmen Sie nun.
Vor einigen Tagen empfängt unser Gerichtshalter eine Ausfertigung
von fremder Behörde, worin gefragt wird, ob nicht ein Knabe sich zu
der und der Zeit in der Nachbarschaft aufgehalten, allerlei Streiche
verübt und endlich bei einem verwegenen Unternehmen seine Jacke
eingebüßt habe.
Wie dieser Schelm nun bezeichnet war, blieb kein Zweifel übrig, es sei
jener Fitz, von dem Felix so viel zu erzählen wußte und den er sich oft
als Spielkameraden zurückwünschte.
Nun erbat sich jene Stelle die benannte Kleidung, wenn sie noch
vorhanden wäre, weil der in Untersuchung geratene Knabe sich darauf
berufe. Von dieser Zumutung spricht nun unser Gerichtshalter
gelegentlich und zeigt das Kittelchen vor, eh' er es absendet.
Mich treibt ein guter oder böser Geist, in die Brusttasche zu greifen; ein
winzig kleines, stachlichtes Etwas kommt mir in die Hand; ich, die ich
sonst so apprehensiv, kitzlich und schreckhaft bin, schließe die Hand,
schließe sie, schweige, und das Kleid wird fortgeschickt. Sogleich
ergreift mich von allen Empfindungen die wunderlichste. Beim ersten
verstohlenen Blick seh' ich, errat' ich, zu Ihrem Kästchen sei es der
Schlüssel. Nun gab es wunderliche Gewissenszweifel, mancherlei
Skrupel stiegen bei mir auf. Den Fund zu offenbaren, herzugeben, war
mir unmöglich: was soll es jenen Gerichten, da es dem Freunde so
nützlich sein kann! Dann wollte sich mancherlei von Recht und Pflicht
wieder auftun, welche mich aber nicht überstimmen konnten.
Da sehen Sie nun, in was für einen Zustand mich die Freundschaft
versetzt; ein famoses Organ entwickelt sich plötzlich, Ihnen zuliebe;

welch ein wunderlich Ereignis! Möchte das nicht mehr als Freundschaft
sein, was meinem Gewissen dergestalt die Waage hält! Wundersam bin
ich beunruhigt, zwischen Schuld und Neugier; ich mache mir hundert
Grillen und Märchen, was alles daraus erfolgen könnte: mit Recht und
Gericht ist nicht zu spaßen. Hersilie, das unbefangene, gelegentlich
übermütige Wesen, in einen Kriminalprozeß verwickelt, denn darauf
geht's doch hinaus, und was bleibt mir da übrig, als an den Freund zu
denken, um dessentwillen ich das alles leide! Ich habe sonst auch an
Sie gedacht, aber mit Pausen, jetzt aber unaufhörlich; jetzt, wenn mir
das Herz schlägt und ich ans siebente Gebot denke, so muß ich mich an
Sie wenden als den Heiligen, der das Verbrechen veranlaßt und mich
auch wohl wieder entbinden kann; und so wird allein die Eröffnung des
Kästchens mich beruhigen. Die Neugierde wird doppelt mächtig.
Kommen Sie eiligst und bringen das Kästchen mit. Für welchen
Richterstuhl eigentlich das Geheimnis gehöre, das wollen wir unter uns
ausmachen; bis dahin bleibt es unter uns; niemand wisse darum, es sei
auch, wer es sei.

Hier aber, mein Freund, nun schließlich zu dieser Abbildung des
Rätsels was sagen Sie? Erinnert es nicht an Pfeile mit Widerhaken?
Gott sei uns gnädig! Aber das Kästchen muß zwischen mir und Ihnen
erst uneröffnet stehen und dann eröffnet das Weitere selbst befehlen.
Ich wollte, es fände sich gar nichts drinnen, und was ich sonst noch
wollte und was ich sonst noch alles erzählen könnte doch sei Ihnen das
vorenthalten, damit Sie desto eiliger sich auf den Weg machen.
Und nun mädchenhaft genug noch eine Nachschrift! Was geht aber
mich und Sie eigentlich das Kästchen an? Es gehört Felix, der hat's
entdeckt, hat sich's zugeeignet, den müssen wir herbeiholen, ohne seine
Gegenwart sollen wir's nicht öffnen.
Und was das wieder für Umstände sind! das schiebt sich und verschiebt
sich.
Was ziehen Sie so in der Welt herum? Kommen Sie! bringen Sie den
holden Knaben mit, den ich auch einmal wieder sehen möchte.

Und nun geht's da wieder an, der Vater und der Sohn! tun Sie, was Sie
können, aber kommen Sie beide.

Drittes
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