Kapitel
Vorstehender wunderliche Brief war freilich schon lange geschrieben
und hin und wider getragen worden, bis er endlich, der Aufschrift
gemäß, diesmal abgegeben werden konnte. Wilhelm nahm sich vor, mit
dem ersten Boten, dessen Absendung bevorstand, freundlich, aber
ablehnend zu antworten. Hersilie schien die Entfernung nicht zu
berechnen, und er war gegenwärtig zu ernstlich beschäftigt, als daß ihn
auch nur die mindeste Neugierde, was in jenem Kästchen befindlich
sein möchte, hätte reizen dürfen.
Auch gaben ihm einige Unfälle, die den derbsten Gliedern dieser
tüchtigen Gesellschaft begegneten, Gelegenheit, sich meisterhaft in der
von ihm ergriffenen Kunst zu beweisen. Und wie ein Wort das andere
gibt, so folgt noch glücklicher eine Tat aus der andern, und wenn
dadurch zuletzt auch wieder Worte veranlaßt werden, so sind diese um
so fruchtbarer und geisterhebender. Die Unterhaltungen waren daher so
belehrend als ergötzlich, denn die Freunde gaben sich wechselseitig
Rechenschaft vom Gange des bisherigen Lernens und Tuns, woraus
eine Bildung entstanden war, die sie wechselseitig erstaunen machte,
dergestalt, daß sie sich untereinander erst selbst wieder mußten kennen
lernen.
Eines Abends also fing Wilhelm seine Erzählung an: "Meine Studien
als Wundarzt suchte ich sogleich in einer großen Anstalt der größten
Stadt, wo sie nur allein möglich wird, zu fördern; zur Anatomie als
Grundstudium wendete ich mich sogleich mit Eifer.
Auf eine sonderbare Weise, welche niemand erraten würde, war ich
schon in Kenntnis der menschlichen Gestalt weit vorgeschritten, und
zwar während meiner theatralischen Laufbahn; alles genau besehen,
spielt denn doch der körperliche Mensch da die Hauptrolle, ein schöner
Mann, eine schöne Frau! Ist der Direktor glücklich genug, ihrer habhaft
zu werden, so sind Komödien--und Tragödiendichter geborgen. Der
losere Zustand, in dem eine solche Gesellschaft lebt, macht ihre
Genossen mehr mit der eigentlichen Schönheit der unverhüllten Glieder
bekannt als irgendein anderes Verhältnis; selbst verschiedene Kostüms
nötigen, zur Evidenz zu bringen, was sonst herkömmlich verhüllt wird.
Hievon hätt' ich viel zu sagen, so auch von körperlichen Mängeln,
welche der kluge Schauspieler an sich und andern kennen muß, um sie,
wo nicht zu verbessern, wenigstens zu verbergen, und auf diese Weise
war ich vorbereitet genug, dem anatomischen Vortrag, der die äußern
Teile näher kennen lehrte, eine folgerechte Aufmerksamkeit zu
schenken; so wie mir denn auch die innern Teile nicht fremd waren,
indem ein gewisses Vorgefühl davon mir immer gegenwärtig geblieben
war. Unangenehm hindernd war bei dem Studium die immer
wiederholte Klage vom Mangel der Gegenstände, über die nicht
hinreichende Anzahl der verbliebenen Körper, die man zu so hohen
Zwecken unter das Messer wünschte. Solche, wo nicht hinreichend,
doch in möglichstes Zahl zu verschaffen, hatte man harte Gesetze
ergehen lassen, nicht allein Verbrecher, die ihr Individuum in jedem
Sinne verwirkt, sondern auch andere körperlich, geistig verwahrloste
Umgekommene wurden in Anspruch genommen.
Mit dem Bedürfnis wuchs die Strenge und mit dieser der Widerwille
des Volks, das in sittlicher und religioser Ansicht seine Persönlichkeit
und die Persönlichkeit geliebter Personen nicht aufgeben kann.
Immer weiter aber stieg das übel, indem die verwirrende Sorge
hervortrat, daß man auch sogar für die friedlichen Gräber geliebter
Abgeschiedener zu fürchten habe. Kein Alter, keine Würde, weder
Hohes noch Niedriges war in seiner Ruhestätte mehr sicher; der Hügel,
den man mit Blumen geschmückt, die Inschriften, mit denen man das
Andenken zu erhalten getrachtet, nichts konnte gegen die einträgliche
Raubsucht schützen; der schmerzlichste Abschied schien aufs
grausamste gestört, und indem man sich vom Grabe wegwendete,
mußte schon die Furcht empfunden werden, die geschmückten,
beruhigten Glieder geliebter Personen getrennt, verschleppt und
entwürdigt zu wissen.
Alles dieses kam wiederholt und immer durchgedroschener zur Sprache,
ohne daß irgend jemand an ein Hülfsmittel gedacht hätte oder daran
hätte denken können, und immer allgemeiner wurden die Beschwerden,
als junge Männer, die mit Aufmerksamkeit den Lehrvortrag gehört,
sich auch mit Hand und Auge von dem bisher Gesehenen und
Vernommenen überzeugen und sich die so notwendige Kenntnis immer
tiefer und lebendiger der Einbildungskraft überliefern wollten.
In solchen Augenblicken entsteht eine Art von unnatürlichem
wissenschaftlichem Hunger, welcher nach der widerwärtigsten
Befriedigung wie nach dem Anmutigsten und Notwendigsten zu
begehren aufregt.
Schon einige Zeit hatte ein solcher Aufschub und Aufenthalt die
Wissens--und Tatlustigen beschäftigt und unterhalten, als endlich ein
Fall, über den die Stadt in Bewegung geriet, eines Morgens das Für und
Wider für einige Stunden heftig hervorrief. Ein sehr schönes Mädchen,
verwirrt durch unglückliche Liebe, hatte den Tod im Wasser gesucht
und gefunden; die Anatomie bemächtigte sich derselbigen; vergebens
war die Bemühung der Eltern, Verwandten, ja des Liebhabers selbst,
der nur durch falschen Argwohn verdächtig geworden. Die obern
Behörden, die soeben das Gesetz geschärft hatten, durften keine
Ausnahme bewilligen; auch eilte man, so schnell als möglich die Beute
zu benutzen und zur Benutzung zu verteilen."
Wilhelm, der als nächster Aspirant gleichfalls berufen wurde, fand vor
dem Sitze, den man ihm anwies, auf einem saubern Breite, reinlich
zugedeckt, eine bedenkliche Aufgabe; denn als er die Hülle wegnahm,
lag der schönste weibliche
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