hätte.
Als nun keine neuen Gäste weiter zudrangen, führte der Vogt unsern
Freund durch die stattliche Pforte in einen weitläufigen Saal; dort war
eine unübersehbare Tafel gedeckt, an deren unterem Ende er
vorbeigeführt wurde, nach oben zu, wo er drei Personen quer vorstehen
sah. Aber von welchem Erstaunen ward er ergriffen, als er in die Nähe
trat und Lenardo, kaum noch erkannt, ihm um den Hals fiel. Von dieser
überraschung hatte man sich noch nicht erholt, als ein Zweiter
Wilhelmen gleichfalls feurig und lebhaft umarmte und sich als den
wunderlichen Friedrich, Nataliens Bruder, zu erkennen gab. Das
Entzücken der Freunde verbreitete sich über alle Gegenwärtigen; ein
Freud--und Segensruf erscholl die ganze Tafel her. Auf einmal aber, als
man sich gesetzt, ward alles still und das Gastmahl mit einer gewissen
Feierlichkeit aufgetragen und eingenommen.
Gegen Ende der Tafel gab Lenardo ein Zeichen, zwei Sänger standen
auf, und Wilhelm verwunderte sich sehr, sein gestriges Lied wiederholt
zu hören, das wir, der nächsten Folge wegen, hier wieder einzurücken
für nötig finden.
"Von dem Berge zu den Hügeln, Niederab das Tal entlang, Da erklingt
es wie von Flügeln, Da bewegt sich's wie Gesang; Und dem
unbedingten Triebe Folget Freude, folget Rat; Und dein Streben, sei's
in Liebe, Und dein Leben sei die Tat."
Kaum hatte dieser Zwiegesang, von einem gefällig mäßigen Chor
begleitet, sich zum Ende geneigt, als gegenüber sich zwei andere
Sänger ungestüm erhuben, welche mit ernster Heftigkeit das Lied mehr
umkehrten als fortsetzten, zur Verwunderung des Ankömmlings aber
sich also vernehmen ließen:
"Denn die Bande sind zerrissen, Das Vertrauen ist verletzt; Kann ich
sagen, kann ich wissen, Welchem Zufall ausgesetzt Ich nun scheiden,
ich nun wandern, Wie die Witwe trauervoll, Statt dem einen mit dem
andern Fort und fort mich wenden soll!"
Der Chor, in diese Strophe einfallend, ward immer zahlreicher, immer
mächtiger, und doch konnte man die Stimme des heiligen Christoph,
vom untern Ende der Tafel her, gar bald unterscheiden. Beinahe
furchtbar schwoll zuletzt die Trauer; ein unmutiger Mut brachte, bei
Gewandtheit der Sänger, etwas Fugenhaftes in das Ganze, daß es
unserm Freunde wie schauderhaft auffiel. Wirklich schienen alle völlig
gleichen Sinnes zu sein und ihr eignes Schicksal eben kurz vor dem
Aufbruche zu betrauern. Die wundersamsten Wiederholungen, das
öftere Wiederaufleben eines beinahe ermattenden Gesanges schien
zuletzt dem Bande selbst gefährlich; Lenardo stand auf, und alle setzten
sich sogleich nieder, den Hymnus unterbrechend. Jener begann mit
freundlichen Worten: "Zwar kann ich euch nicht tadeln, daß ihr euch
das Schicksal, das uns allen bevorsteht, immer vergegenwärtigt, um zu
demselben jede Stunde bereit zu sein. Haben doch lebensmüde,
bejahrte Männer den Ihrigen zugerufen: "Gedenke zu sterben!", so
dürfen wir lebenslustige jüngere wohl uns immerfort ermuntern und
ermahnen mit den heitern Worten: "Gedenke zu wandern!"; dabei ist
aber wohlgetan, mit Maß und Heiterkeit dessen zu erwähnen, was man
entweder willig unternimmt, oder wozu man sich genötigt glaubt. Ihr
wißt am besten, was unter uns fest steht und was beweglich ist; gebt
uns dies auch in erfreulichen, aufmunternden Tönen zu genießen,
worauf denn dieses Abschiedsglas für diesmal gebracht sei!" Er leerte
sodann seinen Becher und setzte sich nieder; die vier Sänger standen
sogleich auf und begannen in abgeleiteten, sich anschließenden Tönen:
"Bleibe nicht am Boden heften, Frisch gewagt und frisch hinaus! Kopf
und Arm mit heitern Kräften, überall sind sie zu Haus; Wo wir uns der
Sonne freuen, Sind wir jede Sorge los: Daß wir uns in ihr zerstreuen,
Darum ist die Welt so groß."
Bei dem wiederholenden Chorgesange stand Lenardo auf und mit ihm
alle; sein Wink setzte die ganze Tischgesellschaft in singende
Bewegung; die unteren zogen, St. Christoph voran, paarweis zum Saale
hinaus, und der angestimmte Wandergesang ward immer heiterer und
freier; besonders aber nahm er sich sehr gut aus, als die Gesellschaft, in
den terrassierten Schloßgärten versammelt, von hier aus das geräumige
Tal übersah, in dessen Fülle und Anmut man sich wohl gern verloren
hätte. Indessen die Menge sich nach Belieben hier--und dorthin
zerstreute, machte man Wilhelmen mit dem dritten Vorsitzenden
bekannt. Es war der Amtmann, der das gräfliche, zwischen mehreren
Standesherrschaften liegende Schloß dieser Gesellschaft, so lange sie
hier zu verweilen für gut fände, einzuräumen und ihr vielfache Vorteile
zu verschaffen gewußt, dagegen aber auch, als ein kluger Mann, die
Anwesenheit so seltener Gäste zu nutzen verstand. Denn indem er für
billige Preise seine Fruchtböden auftat und, was sonst noch zu Nahrung
und Notdurft erforderlich wäre, zu verschaffen wußte, so wurden bei
solcher Gelegenheit längst vernachlässigte Dachreihen umgelegt,
Dachstühle hergestellt, Mauern unterfahren, Planken gerichtet und
andere Mängel auf den Grad gehoben, daß ein längst vernachlässigtes,
in Verfall geratenes Besitztum verblühender Familien den frohen
Anblick einer lebendig benutzten Wohnlichkeit gewährte und das
Zeugnis gab: Leben schaffe Leben, und, wer andern nützlich sei, auch
sie ihm zu nutzen in die Notwendigkeit versetze.
Zweites Kapitel
Hersilie an Wilhelm
Mein Zustand
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