Wilhelm Meisters Wanderjahre, vol 1 | Page 6

Johann Wolfgang von Goethe
ist Sankt Joseph", sagte der Bote; "jammerschade f��r die sch?ne Kirche! Seht nur, wie ihre S?ulen und Pfeiler durch Geb��sch und B?ume noch so wohlerhalten durchsehen, ob sie gleich schon viele hundert Jahre im Schutt liegt."
"Die Klostergeb?ude hingegen", versetzte Wilhelm, "sehe ich, sind noch wohl erhalten."--"Ja", sagte der andere, "es wohnt ein Schaffner daselbst, der die Wirtschaft besorgt, die Zinsen und Zehnten einnimmt, welche man weit und breit hierher zu zahlen hat."
Unter diesen Worten waren sie durch das offene Tor in den ger?umigen Hof gelangt, der, von ernsthaften, wohlerhaltenen Geb?uden umgeben, sich als Aufenthalt einer ruhigen Sammlung ank��ndigte. Seinen Felix mit den Engeln von gestern sah er sogleich besch?ftigt um einen Tragkorb, den eine r��stige Frau vor sich gestellt hatte; sie waren im Begriff, Kirschen zu handeln; eigentlich aber feilschte Felix, der immer etwas Geld bei sich f��hrte. Nun machte er sogleich als Gast den Wirt, spendete reichliche Fr��chte an seine Gespielen, selbst dem Vater war die Erquickung angenehm, mitten in diesen unfruchtbaren Moosw?ldern, wo die farbigen, gl?nzenden Fr��chte noch einmal so sch?n erschienen. Sie trage solche weit herauf aus einem gro?en Garten, bemerkte die Verk?uferin, um den Preis annehmlich zu machen, der den K?ufern etwas zu hoch geschienen hatte. Der Vater werde bald zur��ckkommen, sagten die Kinder, er solle nur einstweilen in den Saal gehen und dort ausruhen.
Wie verwundert war jedoch Wilhelm, als die Kinder ihn zu dem Raume f��hrten, den sie den Saal nannten. Gleich aus dem Hofe ging es zu einer gro?en T��r hinein, und unser Wanderer fand sich in einer sehr reinlichen, wohlerhaltenen Kapelle, die aber, wie er wohl sah, zum h?uslichen Gebrauch des t?glichen Lebens eingerichtet war. An der einen Seite stand ein Tisch, ein Sessel, mehrere St��hle und B?nke, an der andern Seite ein wohlgeschnitztes Ger��st mit bunter T?pferware, Kr��gen und Gl?sern. Es fehlte nicht an einigen Truhen und Kisten und, so ordentlich alles war, doch nicht an dem Einladenden des h?uslichen, t?glichen Lebens. Das Licht fiel von hohen Fenstern an der Seite herein. Was aber die Aufmerksamkeit des Wanderers am meisten erregte, waren farbige, auf die Wand gemalte Bilder, die unter den Fenstern in ziemlicher H?he, wie Teppiche, um drei Teile der Kapelle herumreichten und bis auf ein Get?fel herabgingen, das die ��brige Wand bis zur Erde bedeckte. Die Gem?lde stellten die Geschichte des heiligen Joseph vor. Hier sah man ihn mit einer Zimmerarbeit besch?ftigt; hier begegnete er Marien, und eine Lilie spro?te zwischen beiden aus dem Boden, indem einige Engel sie lauschend umschwebten. Hier wird er getraut; es folgt der englische Gru?. Hier sitzt er mi?mutig zwischen angefangener Arbeit, l??t die Axt ruhen und sinnt darauf, seine Gattin zu verlassen. Zun?chst erscheint ihm aber der Engel im Traum, und seine Lage ?ndert sich. Mit Andacht betrachtet er das neugeborene Kind im Stalle zu Bethlehem und betet es an. Bald darauf folgt ein wundersam sch?nes Bild. Man sieht mancherlei Holz gezimmert; eben soll es zusammengesetzt werden, und zuf?lligerweise bilden ein paar St��cke ein Kreuz. Das Kind ist auf dem Kreuze eingeschlafen, die Mutter sitzt daneben und betrachtet es mit inniger Liebe, und der Pflegevater h?lt mit der Arbeit inne, um den Schlaf nicht zu st?ren. Gleich darauf folgt die Flucht nach ?gypten. Sie erregte bei dem beschauenden Wanderer ein L?cheln, indem er die Wiederholung des gestrigen lebendigen Bildes hier an der Wand sah.
Nicht lange war er seinen Betrachtungen ��berlassen, so trat der Wirt herein, den er sogleich als den F��hrer der heiligen Karawane wiedererkannte. Sie begr��?ten sich aufs herzlichste, mancherlei Gespr?che folgten; doch Wilhelms Aufmerksamkeit blieb auf die Gem?lde gerichtet. Der Wirt merkte das Interesse seines Gastes und fing l?chelnd an: "Gewi?, Ihr bewundert die ��bereinstimmung dieses Geb?udes mit seinen Bewohnern, die Ihr gestern kennenlerntet. Sie ist aber vielleicht noch sonderbarer, als man vermuten sollte: das Geb?ude hat eigentlich die Bewohner gemacht. Denn wenn das Leblose lebendig ist, so kann es auch wohl Lebendiges hervorbringen."
"O ja!" versetzte Wilhelm. "Es sollte mich wundern, wenn der Geist, der vor Jahrhunderten in dieser Berg?de so gewaltig wirkte und einen so m?chtigen K?rper von Geb?uden, Besitzungen und Rechten an sich zog und daf��r mannigfaltige Bildung in der Gegend verbreitete, es sollte mich wundern, wenn er nicht auch aus diesen Tr��mmern noch seine Lebenskraft auf ein lebendiges Wesen aus��bte. La?t uns jedoch nicht im Allgemeinen verharren, macht mich mit Eurer Geschichte bekannt, damit ich erfahre, wie es m?glich war, da? ohne Spielerei und Anma?ung die Vergangenheit sich wieder in Euch darstellt und das, was vor��berging, abermals herantritt."
Eben als Wilhelm belehrende Antwort von den Lippen seines Wirtes erwartete, rief eine freundliche Stimme im Hofe den Namen Joseph. Der Wirt h?rte darauf und ging nach der T��r.
"Also hei?t er auch Joseph!" sagte Wilhelm zu sich selbst. "Das ist doch sonderbar genug und doch eben nicht so sonderbar, als da? er seinen Heiligen im Leben darstellt." Er blickte zu gleicher Zeit
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