Wilhelm Meisters Wanderjahre, vol 1 | Page 5

Johann Wolfgang von Goethe
seiner Herberge anlangte. Nochmals erfreute er sich der gro?en Gebirgsansicht und zog sich sodann auf sein Zimmer zur��ck, wo er sogleich die Feder ergriff und einen Teil der Nacht mit Schreiben zubrachte.
Wilhelm an Natalien
Nun ist endlich die H?he erreicht, die H?he des Gebirgs, das eine m?chtigere Trennung zwischen uns setzen wird als der ganze Landraum bisher. F��r mein Gef��hl ist man noch immer in der N?he seiner Lieben, solange die Str?me von uns zu ihnen laufen. Heute kann ich mir noch einbilden, der Zweig, den ich in den Waldbach werfe, k?nnte f��glich zu ihr hinabschwimmen, k?nnte in wenigen Tagen vor ihrem Garten landen; und so sendet unser Geist seine Bilder, das Herz seine Gef��hle bequemer abw?rts. Aber dr��ben, f��rchte ich, stellt sich eine Scheidewand der Einbildungskraft und der Empfindung entgegen. Doch ist das vielleicht nur eine voreilige Besorglichkeit: denn es wird wohl auch dr��ben nicht anders sein als hier. Was k?nnte mich von dir scheiden! von dir, der ich auf ewig geeignet bin, wenngleich ein wundersames Geschick mich von dir trennt und mir den Himmel, dem ich so nahe stand, unerwartet zuschlie?t. Ich hatte Zeit, mich zu fassen, und doch h?tte keine Zeit hingereicht, mir diese Fassung zu geben, h?tte ich sie nicht aus deinem Munde gewonnen, von deinen Lippen in jenem entscheidenden Moment. Wie h?tte ich mich losrei?en k?nnen, wenn der dauerhafte Faden nicht gesponnen w?re, der uns f��r die Zeit und f��r die Ewigkeit verbinden soll. Doch ich darf ja von allem dem nicht reden. Deine zarten Gebote will ich nicht ��bertreten; auf diesem Gipfel sei es das letztemal, da? ich das Wort Trennung vor dir ausspreche. Mein Leben soll eine Wanderschaft werden. Sonderbare Pflichten des Wanderers habe ich auszu��ben und ganz eigene Pr��fungen zu bestehen. Wie l?chle ich manchmal, wenn ich die Bedingungen durchlese, die mir der Verein, die ich mir selbst vorschrieb! Manches wird gehalten, manches ��bertreten; aber selbst bei der ��bertretung dient mir dies Blatt, dieses Zeugnis von meiner letzten Beichte, meiner letzten Absolution statt eines gebietenden Gewissens, und ich lenke wieder ein. Ich h��te mich, und meine Fehler st��rzen sich nicht mehr wie Gebirgswasser einer ��ber den andern.
Doch will ich dir gern gestehen, da? ich oft diejenigen Lehrer und Menschenf��hrer bewundere, die ihren Sch��lern nur ?u?ere, mechanische Pflichten auflegen. Sie machen sich's und der Welt leicht. Denn gerade diesen Teil meiner Verbindlichkeiten, der mir erst der beschwerlichste, der wunderlichste schien, diesen beobachte ich am bequemsten, am liebsten.
Nicht ��ber drei Tage soll ich unter einem Dache bleiben. Keine Herberge soll ich verlassen, ohne da? ich mich wenigstens eine Meile von ihr entferne. Diese Gebote sind wahrhaft geeignet, meine Jahre zu Wanderjahren zu machen und zu verhindern, da? auch nicht die geringste Versuchung des Ansiedelns bei mir sich finde. Dieser Bedingung habe ich mich bisher genau unterworfen, ja mich der gegebenen Erlaubnis nicht einmal bedient. Hier ist eigentlich das erstemal, da? ich stillhalte, das erstemal, da? ich die dritte Nacht in demselben Bette schlafe. Von hier sende ich dir manches bisher Vernommene, Beobachtete, Gesparte, und dann geht es morgen fr��h auf der andern Seite hinab, f��rerst zu einer wunderbaren Familie, zu einer heiligen Familie m?chte ich wohl sagen, von der du in meinem Tagebuche mehr finden wirst. Jetzt lebe wohl und lege dieses Blatt mit dem Gef��hl aus der Hand, da? es nur eins zu sagen habe, nur eines sagen und immer wiederholen m?chte, aber es nicht sagen, nicht wiederholen will, bis ich das Gl��ck habe, wieder zu deinen F��?en zu liegen und auf deinen H?nden mich ��ber alle das Entbehren auszuweinen.

Morgens.
Es ist eingepackt. Der Bote schn��rt den Mantelsack auf das Reff. Noch ist die Sonne nicht aufgegangen, die Nebel dampfen aus allen Gr��nden; aber der obere Himmel ist heiter. Wir steigen in die d��stere Tiefe hinab, die sich auch bald ��ber unserm Haupte erhellen wird. La? mich mein letztes Ach zu dir hin��bersenden! La? meinen letzten Blick zu dir sich noch mit einer unwillk��rlichen Tr?ne f��llen! Ich bin entschieden und entschlossen. Du sollst keine Klagen mehr von mir h?ren; du sollst nur h?ren, was dem Wanderer begegnet. Und doch kreuzen sich, indem ich schlie?en will, nochmals tausend Gedanken, W��nsche, Hoffnungen und Vors?tze. Gl��cklicherweise treibt man mich hinweg. Der Bote ruft, und der Wirt r?umt schon wieder auf in meiner Gegenwart, eben als wenn ich hinweg w?re, wie gef��hllose, unvorsichtige Erben vor dem Abscheidenden die Anstalten, sich in Besitz zu setzen, nicht verbergen.

Zweites Kapitel

Sankt Joseph der Zweite
Schon hatte der Wanderer, seinem Boten auf dem Fu?e folgend, steile Felsen hinter und ��ber sich gelassen, schon durchstrichen sie ein sanfteres Mittelgebirg und eilten durch manchen wohlbestandnen Wald, durch manchen freundlichen Wiesengrund immer vorw?rts, bis sie sich endlich an einem Abhange befanden und in ein sorgf?ltig bebautes, von H��geln rings umschlossenes Tal hinabschauten. Ein gro?es, halb in Tr��mmern liegendes, halb wohlerhaltenes Klostergeb?ude zog sogleich die Aufmerksamkeit an sich. "Dies
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