Wilhelm Meisters Lehrjahre | Page 8

Johann Wolfgang von Goethe
hierüber bald einig,
denn Serlo hatte schon früher sich so erklärt, daß Wilhelm und die
übrigen damit gar wohl zufrieden sein konnten. Die ganze verunglückte
Gesellschaft, mit der wir uns so lange unterhalten haben, ward auf
einmal angenommen, ohne daß jedoch, außer etwa Laertes, sich einer
gegen Wilhelmen dankbar erzeigt hätte. Wie sie ohne Zutrauen
gefordert hatten, so empfingen sie ohne Dank. Die meisten wollten
lieber ihre Anstellung dem Einflusse Philinens zuschreiben und
richteten ihre Danksagungen an sie. Indessen wurden die ausgefertigten
Kontrakte unterschrieben, und durch eine unerklärliche Verknüpfung
von Ideen entstand vor Wilhelms Einbildungskraft in dem Augenblicke,
als er seinen fingierten Namen unterzeichnete, das Bild jenes
Waldplatzes, wo er verwundet in Philinens Schoß gelegen. Auf einem
Schimmel kam die liebenswürdige Amazone aus den Büschen, nahte
sich ihm und stieg ab. Ihr menschenfreundliches Bemühen hieß sie
gehen und kommen; endlich stand sie vor ihm. Das Kleid fiel von ihren
Schultern; ihr Gesicht, ihre Gestalt fing an zu glänzen, und sie
verschwand. So schrieb er seinen Namen nur mechanisch hin, ohne zu
wissen, was er tat, und fühlte erst, nachdem er unterzeichnet hatte, daß
Mignon an seiner Seite stand, ihn am Arm hielt und ihm die Hand leise
wegzuziehen versucht hatte.

V. Buch, 4. Kapitel

Viertes Kapitel
Eine der Bedingungen, unter denen Wilhelm sich aufs Theater begab,
war von Serlo nicht ohne Einschränkung zugestanden worden. Jener
verlangte, daß "Hamlet" ganz und unzerstückt aufgeführt werden sollte,
und dieser ließ sich das wunderliche Begehren insofern gefallen, als es
möglich sein würde. Nun hatten sie hierüber bisher manchen Streit
gehabt; denn was möglich oder nicht möglich sei und was man von

dem Stück weglassen könne, ohne es zu zerstücken, darüber waren
beide sehr verschiedener Meinung.
Wilhelm befand sich noch in den glücklichen Zeiten, da man nicht
begreifen kann, daß an einem geliebten Mädchen, an einem verehrten
Schriftsteller irgend etwas mangelhaft sein könne. Unsere Empfindung
von ihnen ist so ganz, so mit sich selbst übereinstimmend, daß wir uns
auch in ihnen eine solche vollkommene Harmonie denken müssen.
Serlo hingegen sonderte gern und beinah zuviel; sein scharfer Verstand
wollte in einem Kunstwerke gewöhnlich nur ein mehr oder weniger
unvollkommenes Ganze erkennen. Er glaubte, so wie man die Stücke
finde, habe man wenig Ursache, mit ihnen so gar bedächtig umzugehen,
und so mußte auch Shakespeare, so mußte besonders "Hamlet" vieles
leiden.
Wilhelm wollte gar nicht hören, wenn jener von der Absonderung der
Spreu von dem Weizen sprach. "Es ist nicht Spreu und Weizen
durcheinander", rief dieser, "es ist ein Stamm, äste, Zweige, Blätter,
Knospen, Blüten und Früchte. Ist nicht eins mit dem andern und durch
das andere?" Jener behauptete, man bringe nicht den ganzen Stamm auf
den Tisch; der Künstler müsse goldene äpfel in silbernen Schalen
seinen Gästen reichen. Sie erschöpften sich in Gleichnissen, und ihre
Meinungen schienen sich immer weiter voneinander zu entfernen.
Gar verzweifeln wollte unser Freund, als Serlo ihm einst nach langem
Streit das einfachste Mittel anriet, sich kurz zu resolvieren, die Feder zu
ergreifen und in dem Trauerspiele, was eben nicht gehen wolle noch
könne, abzustreichen, mehrere Personen in eine zu drängen, und wenn
er mit dieser Art noch nicht bekannt genug sei oder noch nicht Herz
genug dazu habe, so solle er ihm die Arbeit überlassen, und er wolle
bald fertig sein.
"Das ist nicht unserer Abrede gemäß", versetzte Wilhelm. "Wie können
Sie bei soviel Geschmack so leichtsinnig sein?"
"Mein Freund", rief Serlo aus, "Sie werden es auch schon werden. Ich
kenne das Abscheuliche dieser Manier nur zu wohl, die vielleicht noch
auf keinem Theater in der Welt stattgefunden hat. Aber wo ist auch eins
so verwahrlost als das unsere? Zu dieser ekelhaften Verstümmelung
zwingen uns die Autoren, und das Publikum erlaubt sie. Wieviel Stücke
haben wir denn, die nicht über das Maß des Personals, der
Dekorationen und Theatermechanik, der Zeit, des Dialogs und der

physischen Kräfte des Akteurs hinausschritten? Und doch sollen wir
spielen und immer spielen und immer neu spielen. Sollen wir uns dabei
nicht unsers Vorteils bedienen, da wir mit zerstückelten Werken
ebensoviel ausrichten als mit ganzen? Setzt uns das Publikum doch
selbst in den Vorteil! Wenig Deutsche, und vielleicht nur wenige
Menschen aller neuern Nationen haben Gefühl für ein ästhetisches
Ganze; sie loben und tadeln nur stellenweise; sie entzücken sich nur
stellenweise: und für wen ist das ein größeres Glück als für den
Schauspieler, da das Theater immer nur ein gestoppeltes und
gestückeltes Wesen bleibt."
"Ist!" versetzte Wilhelm; "aber muß es denn auch so bleiben, muß denn
alles bleiben, was ist? überzeugen Sie mich ja nicht, daß Sie recht
haben; denn keine Macht in der Welt würde mich bewegen können,
einen Kontrakt zu halten, den ich nur im gröbsten Irrtum geschlossen
hätte."
Serlo gab der Sache eine lustige Wendung und ersuchte Wilhelmen,
ihre öftern Gespräche über "Hamlet" nochmals zu bedenken und selbst
die Mittel zu einer glücklichen Bearbeitung
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