Wilhelm Meisters Lehrjahre | Page 9

Johann Wolfgang von Goethe
zu ersinnen.
Nach einigen Tagen, die er in der Einsamkeit zugebracht hatte, kam
Wilhelm mit frohem Blicke zurück. "Ich müßte mich sehr irren", rief er
aus, "wenn ich nicht gefunden hätte, wie dem Ganzen zu helfen ist; ja
ich bin überzeugt, daß Shakespeare es selbst so würde gemacht haben,
wenn sein Genie nicht auf die Hauptsache so sehr gerichtet und nicht
vielleicht durch die Novellen, nach denen er arbeitete, verführt worden
wäre."
"Lassen Sie hören", sagte Serlo, indem er sich gravitätisch aufs
Kanapee setzte; "ich werde ruhig aufhorchen, aber auch desto strenger
richten."
Wilhelm versetzte: "Mir ist nicht bange; hören Sie nur. Ich
unterscheide nach der genausten Untersuchung, nach der reiflichsten
überlegung in der Komposition dieses Stücks zweierlei: das erste sind
die großen innern Verhältnisse der Personen und der Begebenheiten,
die mächtigen Wirkungen, die aus den Charakteren und Handlungen
der Hauptfiguren entstehen, und diese sind einzeln vortrefflich und die
Folge, in der sie aufgestellt sind, unverbesserlich. Sie können durch
keine Art von Behandlung zerstört, ja kaum verunstaltet werden. Diese
sind's, die jedermann zu sehen verlangt, die niemand anzutasten wagt,

die sich tief in die Seele eindrücken und die man, wie ich höre, beinahe
alle auf das deutsche Theater gebracht hat. Nur hat man, wie ich glaube,
darin gefehlt, daß man das zweite, was bei diesem Stück zu bemerken
ist, ich meine die äußern Verhältnisse der Personen, wodurch sie von
einem Orte zum andern gebracht oder auf diese und jene Weise durch
gewisse zufällige Begebenheiten verbunden werden, für allzu
unbedeutend angesehen, nur im Vorbeigehn davon gesprochen oder sie
gar weggelassen hat. Freilich sind diese Fäden nur dünn und lose, aber
sie gehen doch durch's ganze Stück und halten zusammen, was sonst
auseinanderfiele, auch wirklich auseinanderfällt, wenn man sie
wegschneidet und ein übriges getan zu haben glaubt, daß man die
Enden stehenläßt.
Zu diesen äußern Verhältnissen zähle ich die Unruhen in Norwegen,
den Krieg mit dem jungen Fortinbras, die Gesandtschaft an den alten
Oheim, den geschlichteten Zwist, den Zug des jungen Fortinbras nach
Polen und seine Rückkehr am Ende; angleichen die Rückkehr des
Horatio von Wittenberg, die Lust Hamlets, dahin zu gehen, die Reise
des Laertes nach Frankreich, seine Rückkunft, die Verschickung
Hamlets nach England, seine Gefangenschaft beim Seeräuber, der Tod
der beiden Hofleute auf den Uriasbrief: alles dieses sind Umstände und
Begebenheiten, die einen Roman weit und breit machen können, die
aber der Einheit dieses Stücks, in dem besonders der Held keinen Plan
hat, auf das äußerste schaden und höchst fehlerhaft sind."
"So höre ich Sie einmal gerne!" rief Serlo.
"Fallen Sie mir nicht ein", versetzte Wilhelm, "Sie möchten mich nicht
immer loben. Diese Fehler sind wie flüchtige Stützen eines Gebäudes,
die man nicht wegnehmen darf, ohne vorher eine feste Mauer
unterzuziehen. Mein Vorschlag ist also, an jenen ersten, großen
Situationen gar nicht zu rühren, sondern sie sowohl im ganzen als
einzelnen möglichst zu schonen, aber diese äußern, einzelnen,
zerstreuten und zerstreuenden Motive alle auf einmal wegzuwerfen und
ihnen ein einziges zu substituieren."
"Und das wäre?" fragte Serlo, indem er sich aus seiner ruhigen Stellung
aufhob.
"Es liegt auch schon im Stücke", erwiderte Wilhelm, "nur mache ich
den rechten Gebrauch davon. Es sind die Unruhen in Norwegen. Hier
haben Sie meinen Plan zur Prüfung.

Nach dem Tode des alten Hamlet werden die erst eroberten Norweger
unruhig. Der dortige Statthalter schickt seinen Sohn Horatio, einen
alten Schulfreund Hamlets, der aber an Tapferkeit und Lebensklugheit
allen andern vorgelaufen ist, nach Dänemark, auf die Ausrüstung der
Flotte zu dringen, welche unter dem neuen, der Schwelgerei ergebenen
König nur saumselig vonstatten geht. Horatio kennt den alten König,
denn er hat seinen letzten Schlachten beigewohnt, hat bei ihm in
Gunsten gestanden, und die erste Geisterszene wird dadurch nicht
verlieren. Der neue König gibt sodann dem Horatio Audienz und
schickt den Laertes nach Norwegen mit der Nachricht, daß die Flotte
bald anlanden werde, indes Horatio den Auftrag erhält, die Rüstung
derselben zu beschleunigen; dagegen will die Mutter nicht einwilligen,
daß Hamlet, wie er wünschte, mit Horatio zur See gehe."
"Gott sei Dank!" rief Serlo, "so werden wir auch Wittenberg und die
hohe Schule los, die mir immer ein leidiger Anstoß war. Ich finde Ihren
Gedanken recht gut: denn außer den zwei einzigen fernen Bildern,
Norwegen und der Flotte, braucht der Zuschauer sich nichts zu denken;
das übrige sieht er alles, das übrige geht alles vor, anstatt daß sonst
seine Einbildungskraft in der ganzen Welt herumgejagt würde."
"Sie sehen leicht", versetzte Wilhelm, "wie ich nunmehr auch das
übrige zusammenhalten kann. Wenn Hamlet dem Horatio die Missetat
seines Stiefvaters entdeckt, so rät ihm dieser, mit nach Norwegen zu
gehen, sich der Armee zu versichern und mit gewaffneter Hand
zurückzukehren. Da Hamlet dem König und der Königin zu gefährlich
wird, haben sie kein näheres Mittel, ihn loszuwerden, als ihn nach der
Flotte zu schicken und ihm Rosenkranz und Güldenstern zu
Beobachtern mitzugeben;
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