Wilhelm Meisters Lehrjahre | Page 6

Johann Wolfgang von Goethe
"Weil die Gefahr so gro? und das menschliche Herz so schwach ist, so will ich Gott bitten, da? er mich bewahre."
Die naive Antwort schien ihn zu freuen, er lobte meinen Vorsatz; aber es war bei mir nichts weniger als ernstlich gemeint; diesmal war es nur ein leeres Wort: denn die Empfindungen für den Unsichtbaren waren bei mir fast ganz verloschen. Der gro?e Schwarm, mit dem ich umgeben war, zerstreute mich und ri? mich wie ein starker Strom mit fort. Es waren die leersten Jahre meines Lebens. Tagelang von nichts zu reden, keinen gesunden Gedanken zu haben und nur zu schw?rmen, das war meine Sache. Nicht einmal der geliebten Bücher wurde gedacht. Die Leute, mit denen ich umgeben war, hatten keine Ahnung von Wissenschaften; es waren deutsche Hofleute, und diese Klasse hatte damals nicht die mindeste Kultur.
Ein solcher Umgang, sollte man denken, h?tte mich an den Rand des Verderbens führen müssen. Ich lebte in sinnlicher Munterkeit nur so hin, ich sammelte mich nicht, ich betete nicht, ich dachte nicht an mich noch an Gott; aber ich sah es als eine Führung an, da? mir keiner von den vielen sch?nen, reichen und wohlgekleideten M?nnern gefiel. Sie waren liederlich und versteckten es nicht, das schreckte mich zurück; ihr Gespr?ch zierten sie mit Zweideutigkeiten, das beleidigte mich, und ich hielt mich kalt gegen sie; ihre Unart überstieg manchmal allen Glauben, und ich erlaubte mir, grob zu sein.
überdies hatte mir mein Alter einmal vertraulich er?ffnet, da? mit den meisten dieser leidigen Bursche nicht allein die Tugend, sondern auch die Gesundheit eines M?dchens in Gefahr sei. Nun graute mir erst vor ihnen, und ich war schon besorgt, wenn mir einer auf irgendeine Weise zu nahe kam. Ich hütete mich vor Gl?sern und Tassen wie vor dem Stuhle, von dem einer aufgestanden war. Auf diese Weise war ich moralisch und physisch sehr isoliert, und alle die Artigkeiten, die sie mir sagten, nahm ich stolz für schuldigen Weihrauch auf.
Unter den Fremden, die sich damals bei uns aufhielten, zeichnete sich ein junger Mann besonders aus, den wir im Scherz Narzi? nannten. Er hatte sich in der diplomatischen Laufbahn guten Ruf erworben und hoffte bei verschiedenen Ver?nderungen, die an unserm neuen Hofe vorgingen, vorteilhaft plaziert zu werden. Er ward mit meinem Vater bald bekannt, und seine Kenntnisse und sein Betragen ?ffneten ihm den Weg in eine geschlossene Gesellschaft der würdigsten M?nner. Mein Vater sprach viel zu seinem Lobe, und seine sch?ne Gestalt h?tte noch mehr Eindruck gemacht, wenn sein ganzes Wesen nicht eine Art von Selbstgef?lligkeit gezeigt h?tte. Ich hatte ihn gesehen, dachte gut von ihm, aber wir hatten uns nie gesprochen.
Auf einem gro?en Balle, auf dem er sich auch befand, tanzten wir eine Menuett zusammen; auch das ging ohne n?here Bekanntschaft ab. Als die heftigen T?nze angingen, die ich meinem Vater zuliebe, der für meine Gesundheit besorgt war, zu vermeiden pflegte, begab ich mich in ein Nebenzimmer und unterhielt mich mit ?ltern Freundinnen, die sich zum Spiele gesetzt hatten.

VI. Buch--2

Narzi?, der eine Weile mit herumgesprungen war, kam auch einmal in das Zimmer, in dem ich mich befand, und fing, nachdem er sich von einem Nasenbluten, das ihn beim Tanzen überfiel, erholt hatte, mit mir über mancherlei zu sprechen an. Binnen einer halben Stunde war der Diskurs so interessant, ob sich gleich keine Spur von Z?rtlichkeit dreinmischte, da? wir nun beide das Tanzen nicht mehr vertragen konnten. Wir wurden bald von den andern darüber geneckt, ohne da? wir uns dadurch irremachen lie?en. Den andern Abend konnten wir unser Gespr?ch wieder anknüpfen und schonten unsre Gesundheit sehr.
Nun war die Bekanntschaft gemacht. Narzi? wartete mir und meinen Schwestern auf, und nun fing ich erst wieder an gewahr zu werden, was ich alles wu?te, worüber ich gedacht, was ich empfunden hatte und worüber ich mich im Gespr?che auszudrücken verstand. Mein neuer Freund, der von jeher in der besten Gesellschaft gewesen war, hatte au?er dem historischen und politischen Fache, das er ganz übersah, sehr ausgebreitete literarische Kenntnisse, und ihm blieb nichts Neues, besonders was in Frankreich herauskam, unbekannt. Er brachte und sendete mir manch angenehmes Buch, doch das mu?te geheimer als ein verbotenes Liebesverst?ndnis gehalten werden. Man hatte die gelehrten Weiber l?cherlich gemacht, und man wollte auch die unterrichteten nicht leiden, wahrscheinlich weil man für unh?flich hielt, so viel unwissende M?nner besch?men zu lassen. Selbst mein Vater, dem diese neue Gelegenheit, meinen Geist auszubilden, sehr erwünscht war, verlangte ausdrücklich, da? dieses literarische Kommerz ein Geheimnis bleiben sollte.
So w?hrte unser Umgang beinahe Jahr und Tag, und ich konnte nicht sagen, da? Narzi? auf irgendeine Weise Liebe oder Z?rtlichkeit gegen mich ge?u?ert h?tte. Er blieb artig und verbindlich, aber zeigte keinen Affekt; vielmehr schien der Reiz meiner jüngsten Schwester, die damals au?erordentlich sch?n war, ihn nicht gleichgültig zu lassen. Er gab ihr im Scherze allerlei freundliche Namen aus fremden Sprachen, deren mehrere er sehr gut sprach
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