Wilhelm Meisters Lehrjahre | Page 7

Johann Wolfgang von Goethe
und deren eigentümliche Redensarten er gern ins deutsche Gespr?ch mischte. Sie erwiderte seine Artigkeiten nicht sonderlich; sie war von einem andern F?dchen gebunden, und da sie überhaupt sehr rasch und er empfindlich war, so wurden sie nicht selten über Kleinigkeiten uneins. Mit der Mutter und den Tanten wu?te er sich gut zu halten, und so war er nach und nach ein Glied der Familie geworden.
Wer wei?, wie lange wir noch auf diese Weise fortgelebt h?tten, w?ren durch einen sonderbaren Zufall unsere Verh?ltnisse nicht auf einmal ver?ndert worden. Ich ward mit meinen Schwestern in ein gewisses Haus gebeten, wohin ich nicht gerne ging. Die Gesellschaft war zu gemischt, und es fanden sich dort oft Menschen, wo nicht vom rohsten, doch vom plattsten Schlage mit ein. Diesmal war Narzi? auch mit geladen, und um seinetwillen war ich geneigt hinzugehen: denn ich war doch gewi?, jemanden zu finden, mit dem ich mich auf meine Weise unterhalten konnte. Schon bei Tafel hatten wir manches auszustehen, denn einige M?nner hatten stark getrunken; nach Tische sollten und mu?ten Pf?nder gespielt werden. Es ging dabei sehr rauschend und lebhaft zu. Narzi? hatte ein Pfand zu l?sen; man gab ihm auf, der ganzen Gesellschaft etwas ins Ohr zu sagen, das jedermann angenehm w?re. Er mochte sich bei meiner Nachbarin, der Frau eines Hauptmanns, zu lange verweilen. Auf einmal gab ihm dieser eine Ohrfeige, da? mir, die ich gleich daran sa?, der Puder in die Augen flog. Als ich die Augen ausgewischt und mich vom Schrecken einigerma?en erholt hatte, sah ich beide M?nner mit blo?en Degen. Narzi? blutete, und der andere, au?er sich von Wein, Zorn und Eifersucht, konnte kaum von der ganzen übrigen Gesellschaft zurückgehalten werden. Ich nahm Narzissen beim Arm und führte ihn zur Türe hinaus, eine Treppe hinauf in ein ander Zimmer, und weil ich meinen Freund vor seinem tollen Gegner nicht sicher glaubte, riegelte ich die Türe sogleich zu.
Wir hielten beide die Wunde nicht für ernsthaft, denn wir sahen nur einen leichten Hieb über die Hand; bald aber wurden wir einen Strom von Blut, der den Rücken hinunterflo?, gewahr, und es zeigte sich eine gro?e Wunde auf dem Kopfe. Nun ward mir bange. Ich eilte auf den Vorplatz, um nach Hülfe zu schicken, konnte aber niemand ansichtig werden, denn alles war unten geblieben, den rasenden Menschen zu b?ndigen. Endlich kam eine Tochter des Hauses heraufgesprungen, und ihre Munterkeit ?ngstigte mich nicht wenig, da sie sich über den tollen Spektakel und über die verfluchte Kom?die fast zu Tode lachen wollte. Ich bat sie dringend, mir einen Wundarzt zu schaffen, und sie, nach ihrer wilden Art, sprang gleich die Treppe hinunter, selbst einen zu holen.
Ich ging wieder zu meinem Verwundeten, band ihm mein Schnupftuch um die Hand und ein Handtuch, das an der Türe hing, um den Kopf. Er blutete noch immer heftig: der Verwundete erbla?te und schien in Ohnmacht zu sinken. Niemand war in der N?he, der mir h?tte beistehen k?nnen; ich nahm ihn sehr ungezwungen in den Arm und suchte ihn durch Streicheln und Schmeicheln aufzumuntern. Es schien die Wirkung eines geistigen Heilmittels zu tun; er blieb bei sich, aber sa? totenbleich da.
Nun kam endlich die t?tige Hausfrau, und wie erschrak sie, als sie den Freund in dieser Gestalt in meinen Armen liegen und uns alle beide mit Blut überstr?mt sah: denn niemand hatte sich vorgestellt, da? Narzi? verwundet sei; alle meinten, ich habe ihn glücklich hinausgebracht.
Nun war Wein, wohlriechendes Wasser, und was nur erquicken und erfrischen konnte, im überflu? da, nun kam auch der Wundarzt, und ich h?tte wohl abtreten k?nnen; allein Narzi? hielt mich fest bei der Hand, und ich w?re, ohne gehalten zu werden, stehengeblieben. Ich fuhr w?hrend des Verbandes fort, ihn mit Wein anzustreichen, und achtete es wenig, da? die ganze Gesellschaft nunmehr umherstand. Der Wundarzt hatte geendigt, der Verwundete nahm einen stummen, verbindlichen Abschied von mir und wurde nach Hause getragen.
Nun führte mich die Hausfrau in ihr Schlafzimmer; sie mu?te mich ganz auskleiden, und ich darf nicht verschweigen, da? ich, da man sein Blut von meinem K?rper abwusch, zum erstenmal zuf?llig im Spiegel gewahr wurde, da? ich mich auch ohne Hülle für sch?n halten durfte. Ich konnte keines meiner Kleidungsstücke wieder anziehn, und da die Personen im Hause alle kleiner oder st?rker waren als ich, so kam ich in einer seltsamen Verkleidung zum gr??ten Erstaunen meiner Eltern nach Hause. Sie waren über mein Schrecken, über die Wunden des Freundes, über den Unsinn des Hauptmanns, über den ganzen Vorfall ?u?erst verdrie?lich. Wenig fehlte, so h?tte mein Vater selbst, seinen Freund auf der Stelle zu r?chen, den Hauptmann herausgefordert. Er schalt die anwesenden Herren, da? sie ein solches meuchlerisches Beginnen nicht auf der Stelle geahndet; denn es war nur zu offenbar, da? der Hauptmann sogleich, nachdem er geschlagen, den Degen gezogen und Narzissen von hinten verwundet habe; der Hieb über die Hand
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