Wilhelm Meisters Lehrjahre | Page 8

Johann Wolfgang von Goethe
in sein Zimmer, Jarno war vorher weggeritten; Wilhelm eilte auf seine Stube; er hatte niemand, dem er sich vertrauen, niemand, durch den er einen Schritt, vor dem er sich so sehr f��rchtete, h?tte abwenden k?nnen. Der kleine Diener kam und ersuchte ihn einzupacken, weil sie noch diese Nacht aufbinden wollten, um mit Anbruch des Tages wegzufahren. Wilhelm wu?te nicht, was er tun sollte; endlich rief er aus: "Du willst nur machen, da? du aus diesem Hause kommst; unterweges ��berlegst du, was zu tun ist, und bleibst allenfalls auf der H?lfte des Weges liegen, schickst einen Boten zur��ck, schreibst, was du dir nicht zu sagen getraust, und dann mag werden, was will." Ungeachtet dieses Entschlusses brachte er eine schlaflose Nacht zu; nur ein Blick auf den so sch?n ruhenden Felix gab ihm einige Erquickung. "Oh!" rief er aus, "wer wei?, was noch f��r Pr��fungen auf mich warten, wer wei?, wie sehr mich begangene Fehler noch qu?len, wie oft mir gute und vern��nftige Plane f��r die Zukunft mi?lingen sollen; aber diesen Schatz, den ich einmal besitze, erhalte mir, du erbittliches oder unerbittliches Schicksal! W?re es m?glich, da? dieser beste Teil von mir selbst vor mir zerst?rt, da? dieses Herz von meinem Herzen gerissen werden k?nnte, so lebe wohl, Verstand und Vernunft, lebe wohl, jede Sorgfalt und Vorsicht, verschwinde, du Trieb zur Erhaltung! Alles, was uns vom Tiere unterscheidet, verliere sich! Und wenn es nicht erlaubt ist, seine traurigen Tage freiwillig zu endigen, so hebe ein fr��hzeitiger Wahnsinn das Bewu?tsein auf, ehe der Tod, der es auf immer zerst?rt, die lange Nacht herbeif��hrt!"
Er fa?te den Knaben in seine Arme, k��?te ihn, dr��ckte ihn an sich und benetzte ihn mit reichlichen Tr?nen. Das Kind wachte auf; sein helles Auge, sein freundlicher Blick r��hrten den Vater aufs innigste. "Welche Szene steht mir bevor", rief er aus, "wenn ich dich der sch?nen, ungl��cklichen Gr?fin vorstellen soll, wenn sie dich an ihren Busen dr��ckt, den dein Vater so tief verletzt hat! Mu? ich nicht f��rchten, sie st??t dich wieder von sich mit einem Schrei, sobald deine Ber��hrung ihren wahren oder eingebildeten Schmerz erneuert!"
Der Kutscher lie? ihm nicht Zeit, weiter zu denken oder zu w?hlen, er n?tigte ihn vor Tage in den Wagen; nun wickelte er seinen Felix wohl ein, der Morgen war kalt, aber heiter, das Kind sah zum erstenmal in seinem Leben die Sonne aufgehn. Sein Erstaunen ��ber den ersten feurigen Blick, ��ber die wachsende Gewalt des Lichts, seine Freude und seine wunderlichen Bemerkungen erfreuten den Vater und lie?en ihn einen Blick in das Herz tun, vor welchem die Sonne wie ��ber einem reinen, stillen See emporsteigt und schwebt.
In einer kleinen Stadt spannte der Kutscher aus und ritt zur��ck. Wilhelm nahm sogleich ein Zimmer in Besitz und fragte sich nun, ob er bleiben oder vorw?rts gehen solle. In dieser Unentschlossenheit wagte er das Bl?ttchen wieder hervorzunehmen, das er bisher nochmals anzusehen nicht getraut hatte; es enthielt folgende Worte: "Schicke mir deinen jungen Freund ja bald; Mignon hat sich diese beiden letzten Tage eher verschlimmert. So traurig diese Gelegenheit ist, so soll mich's doch freuen, ihn kennenzulernen."
Die letzten Worte hatte Wilhelm beim ersten Blick nicht bemerkt. Er erschrak dar��ber und war sogleich entschieden, da? er nicht gehen wollte. "Wie?" rief er aus, "Lothario, der das Verh?ltnis wei?, hat ihr nicht er?ffnet, wer ich bin? Sie erwartet nicht mit gesetztem Gem��t einen Bekannten, den sie lieber nicht wieders?he, sie erwartet einen Fremden, und ich trete hinein! Ich sehe sie zur��ckschaudern, ich sehe sie err?ten! Nein, es ist mir unm?glich, dieser Szene entgegenzusehen." Soeben wurden die Pferde herausgef��hrt und eingespannt; Wilhelm war entschlossen, abzupacken und hierzubleiben. Er war in der gr??ten Bewegung. Als er ein M?dchen zur Treppe heraufkommen h?rte, die ihm anzeigen wollte, da? alles fertig sei, sann er geschwind auf eine Ursache, die ihn hierzubleiben n?tigte, und seine Augen ruhten ohne Aufmerksamkeit auf dem Billett, das er in der Hand hielt. "Um Gottes willen!" rief er aus, "was ist das? Das ist nicht die Hand der Gr?fin, es ist die Hand der Amazone!"

VIII. Buch, 2. Kapitel--2

Das M?dchen trat herein, bat ihn herunterzukommen und f��hrte Felix mit sich fort. "Ist es m?glich?" rief er aus, "ist es wahr? Was soll ich tun? Bleiben und abwarten und aufkl?ren? oder eilen? eilen und mich einer Entwicklung entgegenst��rzen? Du bist auf dem Wege zu ihr und kannst zaudern? Diesen Abend sollst du sie sehen und willst dich freiwillig ins Gef?ngnis einsperren? Es ist ihre Hand, ja sie ist's! Diese Hand beruft dich, ihr Wagen ist angespannt, dich zu ihr zu f��hren; nun l?st sich das R?tsel: Lothario hat zwei Schwestern. Er wei? mein Verh?ltnis zu der einen; wieviel ich der andern schuldig bin, ist ihm unbekannt. Auch sie wei? nicht, da? der verwundete Vagabund, der ihr, wo nicht sein Leben, doch seine Gesundheit verdankt, in dem Hause ihres Bruders so unverdient
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