Wilhelm Meisters Lehrjahre | Page 6

Johann Wolfgang von Goethe
können? Bin ich mit dem Knaben nicht
eben auf dem Wege, auf dem ich mit Mignon war? Ich zog das liebe
Kind an, seine Gegenwart ergötzte mich, und dabei hab ich es aufs
grausamste vernachlässigt. Was tat ich zu seiner Bildung, nach der es
so sehr strebte? Nichts! Ich überließ es sich selbst und allen
Zufälligkeiten, denen es in einer ungebildeten Gesellschaft nur
ausgesetzt sein konnte; und dann für diesen Knaben, der dir so
merkwürdig war, ehe er dir so wert sein konnte, hat dich denn dein
Herz geheißen, auch nur jemals das geringste für ihn zu tun? Es ist
nicht mehr Zeit, daß du deine eigenen Jahre und die Jahre anderer
vergeudest; nimm dich zusammen, und denke, was du für dich und die
guten Geschöpfe zu tun hast, welche Natur und Neigung so fest an dich
knüpfte."
Eigentlich war dieses Selbstgespräch nur eine Einleitung, sich zu
bekennen, daß er schon gedacht, gesorgt, gesucht und gewählt hatte; er
konnte nicht länger zögern, sich es selbst zu gestehen. Nach oft
vergebens wiederholtem Schmerz über den Verlust Marianens fühlte er
nur zu deutlich, daß er eine Mutter für den Knaben suchen müsse und
daß er sie nicht sichrer als in Theresen finden werde. Er kannte dieses
vortreffliche Frauenzimmer ganz. Eine solche Gattin und Gehülfin
schien die einzige zu sein, der man sich und die Seinen anvertrauen
könnte. Ihre edle Neigung zu Lothario machte ihm keine

Bedenklichkeit. Sie waren durch ein sonderbares Schicksal auf ewig
getrennt, Therese hielt sich für frei und hatte von einer Heirat zwar mit
Gleichgültigkeit, doch als von einer Sache gesprochen, die sich von
selbst versteht.
Nachdem er lange mit sich zu Rate gegangen war, nahm er sich vor, ihr
von sich zu sagen, soviel er nur wußte. Sie sollte ihn kennenlernen, wie
er sie kannte, und er fing nun an, seine eigene Geschichte
durchzudenken; sie schien ihm an Begebenheiten so leer und im ganzen
jedes Bekenntnis so wenig zu seinem Vorteil, daß er mehr als einmal
von dem Vorsatz abzustehn im Begriff war. Endlich entschloß er sich,
die Rolle seiner Lehrjahre aus dem Turme von Jarno zu verlangen;
dieser sagte: "Es ist eben zur rechten Zeit", und Wilhelm erhielt sie.
Es ist eine schauderhafte Empfindung, wenn ein edler Mensch mit
Bewußtsein auf dem Punkte steht, wo er über sich selbst aufgeklärt
werden soll. Alle übergänge sind Krisen, und ist eine Krise nicht
Krankheit? Wie ungern tritt man nach einer Krankheit vor den Spiegel!
Die Besserung fühlt man, und man sieht nur die Wirkung des
vergangenen übels. Wilhelm war indessen vorbereitet genug, die
Umstände hatten schon lebhaft zu ihm gesprochen, seine Freunde
hatten ihn eben nicht geschont, und wenn er gleich das Pergament mit
einiger Hast aufrollte, so ward er doch immer ruhiger, je weiter er las.
Er fand die umständliche Geschichte seines Lebens in großen, scharfen
Zügen geschildert; weder einzelne Begebenheiten noch beschränkte
Empfindungen verwirrten seinen Blick, allgemeine liebevolle
Betrachtungen gaben ihm Fingerzeige, ohne ihn zu beschämen, und er
sah zum erstenmal sein Bild außer sich, zwar nicht wie im Spiegel ein
zweites Selbst, sondern wie im Porträt ein anderes Selbst: man bekennt
sich zwar nicht zu allen Zügen, aber man freut sich, daß ein denkender
Geist uns so hat fassen, ein großes Talent uns so hat darstellen wollen,
daß ein Bild von dem, was wir waren, noch besteht und daß es länger
als wir selbst dauern kann.
Wilhelm beschäftigte sich nunmehr, indem alle Umstände durch dies
Manuskript in sein Gedächtnis zurückkamen, die Geschichte seines
Lebens für Theresen aufzusetzen, und er schämte sich fast, daß er

gegen ihre großen Tugenden nichts aufzustellen hatte, was eine
zweckmäßige Tätigkeit beweisen konnte. So umständlich er in dem
Aufsatze war, so kurz faßte er sich in dem Briefe, den er an sie schrieb;
er bat sie um ihre Freundschaft, um ihre Liebe, wenn's möglich wäre; er
bot ihr seine Hand an und bat sie um baldige Entscheidung.
Nach einigem innerlichen Streit, ob er diese wichtige Sache noch erst
mit seinen Freunden, mit Jarno und dem Abbe, beraten solle, entschied
er sich zu schweigen. Er war zu fest entschlossen, die Sache war für ihn
zu wichtig, als daß er sie noch hätte dem Urteil des vernünftigsten und
besten Mannes unterwerfen mögen; ja sogar brauchte er die Vorsicht,
seinen Brief auf der nächsten Post selbst zu bestellen. Vielleicht hatte
ihm der Gedanke, daß er in so vielen Umständen seines Lebens, in
denen er frei und im verborgenen zu handeln glaubte, beobachtet, ja
sogar geleitet worden war, wie ihm aus der geschriebenen Rolle nicht
undeutlich erschien, eine Art von unangenehmer Empfindung gegeben,
und nun wollte er wenigstens zu Theresens Herzen rein vom Herzen
reden und ihrer Entschließung und Entscheidung sein Schicksal
schuldig sein, und so machte er sich kein Gewissen, seine Wächter und
Aufseher in diesem wichtigen Punkte wenigstens zu umgehen.

VIII. Buch, 2. Kapitel--1
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