Wilhelm Meisters Lehrjahre | Page 5

Johann Wolfgang von Goethe
und war eingeschlafen. "Was ist
das für ein Wurm?" fragte Werner. Wilhelm hatte in dem Augenblicke
den Mut nicht, die Wahrheit zu sagen, noch Lust, eine doch immer
zweideutige Geschichte einem Manne zu erzählen, der von Natur nichts
weniger als gläubig war.
Die ganze Gesellschaft begab sich nunmehr auf die Güter, um sie zu
besehen und den Handel abzuschließen. Wilhelm ließ seinen Felix
nicht von der Seite und freute sich um des Knaben willen recht lebhaft
des Besitzes, dem man entgegensah. Die Lüsternheit des Kindes nach
den Kirschen und Beeren, die bald reif werden sollten, erinnerte ihn an
die Zeit seiner Jugend und an die vielfache Pflicht des Vaters, den
Seinigen den Genuß vorzubereiten, zu verschaffen und zu erhalten. Mit
welchem Interesse betrachtete er die Baumschulen und die Gebäude!
Wie lebhaft sann er darauf, das Vernachlässigte wiederherzustellen und
das Verfallene zu erneuern! Er sah die Welt nicht mehr wie ein
Zugvogel an, ein Gebäude nicht mehr für eine geschwind
zusammengestellte Laube, die vertrocknet, ehe man sie verläßt. Alles,
was er anzulegen gedachte, sollte dem Knaben entgegenwachsen, und
alles, was er herstellte, sollte eine Dauer auf einige Geschlechter haben.
In diesem Sinne waren seine Lehrjahre geendigt, und mit dem Gefühl
des Vaters hatte er auch alle Tugenden eines Bürgers erworben. Er
fühlte es, und seiner Freude konnte nichts gleichen. "O der unnötigen
Strenge der Moral!" rief er aus, "da die Natur uns auf ihre liebliche
Weise zu allem bildet, was wir sein sollen. O der seltsamen
Anforderungen der bürgerlichen Gesellschaft, die uns erst verwirrt und
mißleitet und dann mehr als die Natur selbst von uns fordert! Wehe
jeder Art von Bildung, welche die wirksamsten Mittel wahrer Bildung
zerstört und uns auf das Ende hinweist, anstatt uns auf dem Wege
selbst zu beglücken!"

So manches er auch in seinem Leben schon gesehen hatte, so schien
ihm doch die menschliche Natur erst durch die Beobachtung des
Kindes deutlich zu werden. Das Theater war ihm, wie die Welt, nur als
eine Menge ausgeschütteter Würfel vorgekommen, deren jeder einzeln
auf seiner Oberfläche bald mehr, bald weniger bedeutet und die
allenfalls zusammengezählt eine Summe machen. Hier im Kinde lag
ihm, konnte man sagen, ein einzelner Würfel vor, auf dessen vielfachen
Seiten der Wert und der Unwert der menschlichen Natur so deutlich
eingegraben war.
Das Verlangen des Kindes nach Unterscheidung wuchs mit jedem Tage.
Da es einmal erfahren hatte, daß die Dinge Namen haben, so wollte es
auch den Namen von allem hören; es glaubte nicht anders, sein Vater
müsse alles wissen, quälte ihn oft mit Fragen und gab ihm Anlaß, sich
nach Gegenständen zu erkundigen, denen er sonst wenig
Aufmerksamkeit gewidmet hatte. Auch der eingeborne Trieb, die
Herkunft und das Ende der Dinge zu erfahren, zeigte sich frühe bei dem
Knaben. Wenn er fragte, wo der Wind herkomme und wo die Flamme
hinkomme, war dem Vater seine eigene Beschränkung erst recht
lebendig; er wünschte zu erfahren, wie weit sich der Mensch mit seinen
Gedanken wagen und wovon er hoffen dürfe sich und andern jemals
Rechenschaft zu geben. Die Heftigkeit des Kindes, wenn es
irgendeinem lebendigen Wesen Unrecht geschehen sah, erfreute den
Vater höchlich als das Zeichen eines trefflichen Gemüts. Das Kind
schlug heftig nach dem Küchenmädchen, das einige Tauben
abgeschnitten hatte. Dieser schöne Begriff wurde denn freilich bald
wieder zerstört, als er den Knaben fand, der ohne Barmherzigkeit
Frösche totschlug und Schmetterlinge zerrupfte. Es erinnerte ihn dieser
Zug an so viele Menschen, die höchst gerecht erscheinen, wenn sie
ohne Leidenschaft sind und die Handlungen anderer beobachten.
Dieses angenehme Gefühl, daß der Knabe so einen schönen und
wahren Einfluß auf sein Dasein habe, ward einen Augenblick gestört,
als Wilhelm in kurzem bemerkte, daß wirklich der Knabe mehr ihn als
er den Knaben erziehe. Er hatte an dem Kinde nichts auszusetzen, er
war nicht imstande, ihm eine Richtung zu geben, die es nicht selbst
nahm, und sogar die Unarten, gegen die Aurelie so viel gearbeitet hatte,

waren, so schien es, nach dem Tode dieser Freundin alle wieder in ihre
alten Rechte getreten. Noch machte das Kind die Türe niemals hinter
sich zu, noch wollte er seinen Teller nicht abessen, und sein Behagen
war niemals größer, als wenn man ihm nachsah, daß er den Bissen
unmittelbar aus der Schüssel nehmen, das volle Glas stehenlassen und
aus der Flasche trinken konnte. So war er auch ganz allerliebst, wenn er
sich mit einem Buche in die Ecke setzte und sehr ernsthaft sagte: "Ich
muß das gelehrte Zeug studieren!", ob er gleich die Buchstaben noch
lange weder unterscheiden konnte noch wollte.
Bedachte nun Wilhelm, wie wenig er bisher für das Kind getan hatte,
wie wenig er zu tun fähig sei, so entstand eine Unruhe in ihm, die sein
ganzes Glück aufzuwiegen imstande war. "Sind wir Männer denn",
sagte er zu sich, "so selbstisch geboren, daß wir unmöglich für ein
Wesen außer uns Sorge tragen
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