Wilhelm Meisters Lehrjahre | Page 7

Johann Wolfgang von Goethe

Zweites Kapitel
Kaum war der Brief abgesendet, als Lothario zurückkam. Jedermann
freuete sich, die vorbereiteten wichtigen Geschäfte abgeschlossen und
bald geendigt zu sehen, und Wilhelm erwartete mit Verlangen, wie so
viele Fäden teils neu geknüpft, teils aufgelöst und nun sein eignes
Verhältnis auf die Zukunft bestimmt werden sollte. Lothario begrüßte
sie alle aufs beste; er war völlig wiederhergestellt und heiter, er hatte
das Ansehen eines Mannes, der weiß, was er tun soll, und dem in allem,
was er tun will, nichts im Wege steht.
Wilhelm konnte ihm seinen herzlichen Gruß nicht zurückgeben. "Dies

ist", mußte er zu sich selbst sagen, "der Freund, der Geliebte, der
Bräutigam Theresens, an dessen Statt du dich einzudrängen denkst.
Glaubst du denn jemals einen solchen Eindruck auszulöschen oder zu
verbannen?" Wäre der Brief noch nicht fort gewesen, er hätte vielleicht
nicht gewagt, ihn abzusenden. Glücklicherweise war der Wurf schon
getan, vielleicht war Therese schon entschieden, nur die Entfernung
deckte noch eine glückliche Vollendung mit ihrem Schleier. Gewinn
und Verlust mußten sich bald entscheiden. Er suchte sich durch alle
diese Betrachtungen zu beruhigen, und doch waren die Bewegungen
seines Herzens beinahe fieberhaft. Nur wenig Aufmerksamkeit konnte
er auf das wichtige Geschäft wenden, woran gewissermaßen das
Schicksal seines ganzen Vermögens hing. Ach! wie unbedeutend
erscheint dem Menschen in leidenschaftlichen Augenblicken alles, was
ihn umgibt, alles, was ihm angehört!
Zu seinem Glücke behandelte Lothario die Sache groß, und Werner mit
Leichtigkeit. Dieser hatte bei seiner heftigen Begierde zum Erwerb eine
lebhafte Freude über den schönen Besitz, der ihm oder vielmehr seinem
Freunde werden sollte. Lothario von seiner Seite schien ganz andere
Betrachtungen zu machen. "Ich kann mich nicht sowohl über einen
Besitz freuen", sagte er, "als über die Rechtmäßigkeit desselben."
"Nun, beim Himmel!" rief Werner, "wird denn dieser unser Besitz nicht
rechtmäßig genug?"
"Nicht ganz!" versetzte Lothario.
"Geben wir denn nicht unser bares Geld dafür?"
"Recht gut!" sagte Lothario, "auch werden Sie dasjenige, was ich zu
erinnern habe, vielleicht für einen leeren Skrupel halten. Mir kommt
kein Besitz ganz rechtmäßig, ganz rein vor, als der dem Staate seinen
schuldigen Teil abträgt."
"Wie?" sagte Werner, "so wollten Sie also lieber, daß unsere frei
gekauften Güter steuerbar wären?"
"Ja", versetzte Lothario, "bis auf einen gewissen Grad: denn durch

diese Gleichheit mit allen übrigen Besitzungen entsteht ganz allein die
Sicherheit des Besitzes. Was hat der Bauer in den neuern Zeiten, wo so
viele Begriffe schwankend werden, für einen Hauptanlaß, den Besitz
des Edelmanns für weniger gegründet anzusehen als den seinigen? Nur
den, daß jener nicht belastet ist und auf ihn lastet."
"Wie wird es aber mit den Zinsen unseres Kapitals aussehen?"
versetzte Werner.
"Um nichts schlimmer!" sagte Lothario, "wenn uns der Staat gegen
eine billige, regelmäßige Abgabe das Lehns-Hokuspokus erlassen und
uns mit unsern Gütern nach Belieben zu schalten erlauben wollte, daß
wir sie nicht in so großen Massen zusammenhalten müßten, daß wir sie
unter unsere Kinder gleicher verteilen könnten, um alle in eine lebhafte,
freie Tätigkeit zu versetzen, statt ihnen nur die beschränkten und
beschränkenden Vorrechte zu hinterlassen, welche zu genießen wir
immer die Geister unserer Vorfahren hervorrufen müssen. Wieviel
glücklicher wären Männer und Frauen, wenn sie mit freien Augen
umhergehen und bald ein würdiges Mädchen, bald einen trefflichen
Jüngling ohne andere Rücksichten durch ihre Wahl erheben könnten.
Der Staat würde mehr, vielleicht bessere Bürger haben und nicht so oft
um Köpfe und Hände verlegen sein."
"Ich kann Sie versichern", sagte Werner, "daß ich in meinem Leben nie
an den Staat gedacht habe; meine Abgaben, Zölle und Geleite habe ich
nur so bezahlt, weil es einmal hergebracht ist."
"Nun", sagte Lothario, "ich hoffe Sie noch zum guten Patrioten zu
machen: denn wie der nur ein guter Vater ist, der bei Tische erst seinen
Kindern vorlegt, so ist der nur ein guter Bürger, der vor allen andern
Ausgaben das, was er dem Staate zu entrichten hat, zurücklegt."
Durch solche allgemeine Betrachtungen wurden ihre besondern
Geschäfte nicht aufgehalten, vielmehr beschleunigt. Als sie ziemlich
damit zustande waren, sagte Lothario zu Wilhelmen: "Ich muß Sie nun
an einen Ort schicken, wo Sie nötiger sind als hier: meine Schwester
läßt Sie ersuchen, so bald als möglich zu ihr zu kommen; die arme
Mignon scheint sich zu verzehren, und man glaubt, Ihre Gegenwart

könnte vielleicht noch dem übel Einhalt tun. Meine Schwester schickte
mir dieses Billett noch nach, woraus Sie sehen können, wieviel ihr
daran gelegen ist." Lothario überreichte ihm ein Blättchen. Wilhelm,
der schon in der größten Verlegenheit zugehört hatte, erkannte sogleich
an diesen flüchtigen Bleistiftzügen die Hand der Gräfin und wußte
nicht, was er antworten sollte.
"Nehmen Sie Felix mit", sagte Lothario, "damit die Kinder sich
untereinander aufheitern. Sie müßten morgen früh beizeiten weg; der
Wagen meiner Schwester, in welchem meine Leute hergefahren sind,
ist noch hier, ich gebe Ihnen Pferde bis auf halben Weg, dann nehmen
Sie Post. Leben Sie recht wohl und richten viele Grüße
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