Wilhelm Meisters Lehrjahre | Page 7

Johann Wolfgang von Goethe
die ganze Zeit ihres Lebens ab?ngstigen, nicht durchzugehen, auch nicht einmal darin als G?ste zu verweilen brauchen. Allgemein und richtig mu? ihr Blick auf dem h?heren Standpunkte werden, leicht ein jeder Schritt ihres Lebens! Sie sind von Geburt an gleichsam in ein Schiff gesetzt, um bei der überfahrt, die wir alle machen müssen, sich des günstigen Windes zu bedienen und den widrigen abzuwarten, anstatt da? andere nur für ihre Person schwimmend sich abarbeiten, vom günstigen Winde wenig Vorteil genie?en und im Sturme mit bald ersch?pften Kr?ften untergehen. Welche Bequemlichkeit, welche Leichtigkeit gibt ein angebornes Verm?gen! und wie sicher blühet ein Handel, der auf ein gutes Kapital gegründet ist, so da? nicht jeder mi?lungene Versuch sogleich in Unt?tigkeit versetzt! Wer kann den Wert und Unwert irdischer Dinge besser kennen, als der sie zu genie?en von Jugend auf im Falle war, und wer kann seinen Geist früher auf das Notwendige, das Nützliche, das Wahre leiten, als der sich von so vielen Irrtümern in einem Alter überzeugen mu?, wo es ihm noch an Kr?ften nicht gebricht, ein neues Leben anzufangen!"
So rief unser Freund allen denenjenigen Glück zu, die sich in den h?heren Regionen befinden; aber auch denen, die sich einem solchen Kreise n?hern, aus diesen Quellen sch?pfen k?nnen, und pries seinen Genius, der Anstalt machte, auch ihn diese Stufen hinanzuführen.
Indessen mu?te Melina, nachdem er lange sich den Kopf zerbrochen, wie er nach dem Verlangen des Grafen und nach seiner eigenen überzeugung die Gesellschaft in F?cher einteilen und einem jeden seine bestimmte Mitwirkung übertragen wollte, zuletzt, da es an die Ausführung kam, sehr zufrieden sein, wenn er bei einem so geringen Personal die Schauspieler willig fand, sich nach M?glichkeit in diese oder jene Rollen zu schicken. Doch übernahm gew?hnlich Laertes die Liebhaber, Philine die Kammerm?dchen, die beiden jungen Frauenzimmer teilten sich in die naiven und z?rtlichen Liebhaberinnen, der alte Polterer ward am besten gespielt. Melina selbst glaubte als Chevalier auftreten zu dürfen, Madame Melina mu?te zu ihrem gr??ten Verdru? in das Fach der jungen Frauen, ja sogar der z?rtlichen Mütter übergehen, und weil in den neuern Stücken nicht leicht mehr ein Pedant oder Poet, wenn er auch vorkommen sollte, l?cherlich gemacht wird, so mu?te der bekannte Günstling des Grafen nunmehr die Pr?sidenten und Minister spielen, weil diese gew?hnlich als B?sewichter vorgestellt und im fünften Akte übel behandelt werden. Ebenso steckte Melina mit Vergnügen als Kammerjunker oder Kammerherr die Grobheiten ein, welche ihm von biedern deutschen M?nnern hergebrachterma?en in mehreren beliebten Stücken aufgedrungen wurden, weil er sich doch bei dieser Gelegenheit artig herausputzen konnte und das Air eines Hofmannes, das er vollkommen zu besitzen glaubte, anzunehmen die Erlaubnis hatte.
Es dauerte nicht lange, so kamen von verschiedenen Gegenden mehrere Schauspieler herbeigeflossen, welche ohne sonderliche Prüfung angenommen, aber auch ohne sonderliche Bedingungen festgehalten wurden.
Wilhelm, den Melina vergebens einigemal zu einer Liebhaberrolle zu bereden suchte, nahm sich der Sache mit vielem guten Willen an, ohne da? unser neuer Direktor seine Bemühungen im mindesten anerkannte; vielmehr glaubte dieser mit seiner Würde auch alle n?tige Einsicht überkommen zu haben; besonders war das Streichen eine seiner angenehmsten Besch?ftigungen, wodurch er ein jedes Stück auf das geh?rige Zeitma? herunterzusetzen wu?te, ohne irgendeine andere Rücksicht zu nehmen. Er hatte viel Zuspruch, das Publikum war sehr zufrieden, und die geschmackvollsten Einwohner des St?dtchens behaupteten, da? das Theater in der Residenz keinesweges so gut als das ihre bestellt sei.

III. Buch, 3. Kapitel

Drittes Kapitel
Endlich kam die Zeit herbei, da? man sich zur überfahrt schicken, die Kutschen und Wagen erwarten sollte, die unsere Truppe nach dem Schlosse des Grafen hinüberzuführen bestellt waren. Schon zum voraus fielen gro?e Streitigkeiten vor, wer mit dem andern fahren, wie man sitzen sollte. Die Ordnung und Einteilung ward endlich nur mit Mühe ausgemacht und festgesetzt, doch leider ohne Wirkung. Zur bestimmten Stunde kamen weniger Wagen, als man erwartet hatte, und man mu?te sich einrichten. Der Baron, der zu Pferde nicht lange hintendrein folgte, gab zur Ursache an, da? im Schlosse alles in gro?er Bewegung sei, weil nicht allein der Fürst einige Tage früher eintreffen werde, als man geglaubt, sondern weil auch unerwarteter Besuch schon gegenw?rtig angelangt sei; der Platz gehe sehr zusammen, sie würden auch deswegen nicht so gut logieren, als man es ihnen vorher bestimmt habe, welches ihm au?erordentlich leid tue.
Man teilte sich in die Wagen, so gut es gehen wollte, und da leidlich Wetter und das Schlo? nur einige Stunden entfernt war, machten sich die Lustigsten lieber zu Fu?e auf den Weg, als da? sie die Rückkehr der Kutschen h?tten abwarten sollen. Die Karawane zog mit Freudengeschrei aus, zum erstenmal ohne Sorgen, wie der Wirt zu bezahlen sei. Das Schlo? des Grafen stand ihnen wie ein Feengeb?ude vor der Seele, sie waren die glücklichsten und fr?hlichsten Menschen von der Welt, und jeder knüpfte unterwegs an diesen Tag, nach seiner Art zu denken, eine Reihe von Glück, Ehre und Wohlstand.
Ein starker
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