Wilhelm Meisters Lehrjahre | Page 6

Johann Wolfgang von Goethe
"Wir sehen uns bald wieder."
So glückliche Aussichten belebten die ganze Gesellschaft; jeder lie? nunmehr seinen Hoffnungen, Wünschen und Einbildungen freien Lauf, sprach von den Rollen, die er spielen, von dem Beifall, den er erhalten wollte. Melina überlegte, wie er noch geschwind durch einige Vorstellungen den Einwohnern des St?dtchens etwas Geld abnehmen und zugleich die Gesellschaft in Atem setzen k?nne, indes andere in die Küche gingen, um ein besseres Mittagsessen zu bestellen, als man sonst einzunehmen gewohnt war.

III. Buch, 2. Kapitel

Zweites Kapitel
Nach einigen Tagen kam der Baron, und Melina empfing ihn nicht ohne Furcht. Der Graf hatte ihn als einen Kenner angekündigt, und es war zu besorgen, er werde gar bald die schwache Seite des kleinen Haufens entdecken und einsehen, da? er keine formierte Truppe vor sich habe, indem sie kaum ein Stück geh?rig besetzen konnten; allein sowohl der Direktor als die s?mtlichen Glieder waren bald aus aller Sorge, da sie an dem Baron einen Mann fanden, der mit dem gr??ten Enthusiasmus das vaterl?ndische Theater betrachtete, dem ein jeder Schauspieler und jede Gesellschaft willkommen und erfreulich war. Er begrü?te sie alle mit Feierlichkeit, pries sich glücklich, eine deutsche Bühne so unvermutet anzutreffen, mit ihr in Verbindung zu kommen und die vaterl?ndischen Musen in das Schlo? seines Verwandten einzuführen. Er brachte bald darauf ein Heft aus der Tasche, in welchem Melina die Punkte des Kontraktes zu erblicken hoffte; allein es war ganz etwas anderes. Der Baron bat sie, ein Drama, das er selbst verfertigt und das er von ihnen gespielt zu sehen wünschte, mit Aufmerksamkeit anzuh?ren. Willig schlossen sie einen Kreis und waren erfreut, mit so geringen Kosten sich in der Gunst eines so notwendigen Mannes befestigen zu k?nnen, obgleich ein jeder nach der Dicke des Heftes überm??ig lange Zeit befürchtete. Auch war es wirklich so; das Stück war in fünf Akten geschrieben und von der Art, die gar kein Ende nimmt.
Der Held war ein vornehmer, tugendhafter, gro?mütiger und dabei verkannter und verfolgter Mann, der aber denn doch zuletzt den Sieg über seine Feinde davontrug, über welche sodann die strengste poetische Gerechtigkeit ausgeübt worden w?re, wenn er ihnen nicht auf der Stelle verziehen h?tte.
Indem dieses Stück vorgetragen wurde, hatte jeder Zuh?rer Raum genug, an sich selbst zu denken und ganz sachte aus der Demut, zu der er sich noch vor kurzem geneigt fühlte, zu einer glücklichen Selbstgef?lligkeit emporzusteigen und von da aus die anmutigsten Aussichten in die Zukunft zu überschauen. Diejenigen, die keine ihnen angemessene Rolle in dem Stück fanden, erkl?rten es bei sich für schlecht und hielten den Baron für einen unglücklichen Autor, dagegen die andern eine Stelle, bei der sie beklatscht zu werden hofften, mit dem gr??ten Lobe zur m?glichsten Zufriedenheit des Verfassers verfolgten.
Mit dem ?konomischen waren sie geschwind fertig. Melina wu?te zu seinem Vorteil mit dem Baron den Kontrakt abzuschlie?en und ihn vor den übrigen Schauspielern geheimzuhalten.
über Wilhelmen sprach Melina den Baron im Vorbeigehen und versicherte, da? er sich sehr gut zum Theaterdichter qualifiziere und zum Schauspieler selbst keine üblen Anlagen habe. Der Baron machte sogleich mit ihm als einem Kollegen Bekanntschaft, und Wilhelm produzierte einige kleine Stücke, die nebst wenigen Reliquien an jenem Tage, als er den gr??ten Teil seiner Arbeiten in Feuer aufgehen lie?, durch einen Zufall gerettet wurden. Der Baron lobte sowohl die Stücke als den Vortrag, nahm als bekannt an, da? er mit hinüber auf das Schlo? kommen würde, versprach bei seinem Abschiede allen die beste Aufnahme, bequeme Wohnung, gutes Essen, Beifall und Geschenke, und Melina setzte noch die Versicherung eines bestimmten Taschengeldes hinzu.
Man kann denken, in welche gute Stimmung durch diesen Besuch die Gesellschaft gesetzt war, indem sie statt eines ?ngstlichen und niedrigen Zustandes auf einmal Ehre und Behagen vor sich sah. Sie machten sich schon zum voraus auf jene Rechnung lustig, und jedes hielt für unschicklich, nur noch irgendeinen Groschen Geld in der Tasche zu behalten.
Wilhelm ging indessen mit sich zu Rate, ob er die Gesellschaft auf das Schlo? begleiten solle, und fand in mehr als einem Sinne r?tlich, dahin zu gehen. Melina hoffte, bei diesem vorteilhaften Engagement seine Schuld wenigstens zum Teil abtragen zu k?nnen, und unser Freund, der auf Menschenkenntnis ausging, wollte die Gelegenheit nicht vers?umen, die gro?e Welt n?her kennenzulernen, in der er viele Aufschlüsse über das Leben, über sich selbst und die Kunst zu erlangen hoffte. Dabei durfte er sich nicht gestehen, wie sehr er wünsche, der sch?nen Gr?fin wieder n?her zu kommen. Er suchte sich vielmehr im allgemeinen zu überzeugen, welchen gro?en Vorteil ihm die n?here Kenntnis der vornehmen und reichen Welt bringen würde. Er machte seine Betrachtungen über den Grafen, die Gr?fin, den Baron, über die Sicherheit, Bequemlichkeit und Anmut ihres Betragens und rief, als er allein war, mit Entzücken aus:
"Dreimal glücklich sind diejenigen zu preisen, die ihre Geburt sogleich über die untern Stufen der Menschheit hinaushebt; die durch jene Verh?ltnisse, in welchen sich manche gute Menschen
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