Wilhelm Meisters Lehrjahre | Page 5

Johann Wolfgang von Goethe
halten müsse, welchen Ausspruch dieser in der gr??ten Devotion aufnahm.
Der Graf bemerkte sodann einem jeden, worauf er besonders zu studieren, was er an seiner Figur und Stellung zu bessern habe, zeigte ihnen einleuchtend, woran es den Deutschen immer fehle, und lie? so au?erordentliche Kenntnisse sehen, da? alle in der gr??ten Demut vor so einem erleuchteten Kenner und erlauchten Beschützer standen und kaum Atem zu holen sich getrauten.
"Wer ist der Mensch dort in der Ecke?" fragte der Graf, indem er nach einem Subjekte sah, das ihm noch nicht vorgestellt worden war, und eine hagre Figur nahte sich in einem abgetragenen, auf dem Ellbogen mit Fleckchen besetzten Rocke; eine kümmerliche Perücke bedeckte das Haupt des demütigen Klienten.
Dieser Mensch, den wir schon aus dem vorigen Buche als Philinens Liebling kennen, pflegte gew?hnlich Pedanten, Magister und Poeten zu spielen und meistens die Rolle zu übernehmen, wenn jemand Schl?ge kriegen oder begossen werden sollte. Er hatte sich gewisse kriechende, l?cherliche, furchtsame Bücklinge angew?hnt, und seine stockende Sprache, die zu seinen Rollen pa?te, machte die Zuschauer lachen, so da? er immer noch als ein brauchbares Glied der Gesellschaft angesehen wurde, besonders da er übrigens sehr dienstfertig und gef?llig war. Er nahte sich auf seine Weise dem Grafen, neigte sich vor demselben und beantwortete jede Frage auf die Art, wie er sich in seinen Rollen auf dem Theater zu geb?rden pflegte. Der Graf sah ihn mit gef?lliger Aufmerksamkeit und mit überlegung eine Zeitlang an, alsdann rief er, indem er sich zu der Gr?fin wendete: "Mein Kind, betrachte mit diesen Mann genau; ich hafte dafür, das ist ein gro?er Schauspieler oder kann es werden." Der Mensch machte von ganzem Herzen einen albernen Bückling, so da? der Graf laut über ihn lachen mu?te und ausrief: "Er macht seine Sachen exzellent! Ich wette, dieser Mensch kann spielen, was er will, und es ist schade, da? man ihn bisher zu nichts Besserm gebraucht hat."
Ein so au?erordentlicher Vorzug war für die übrigen sehr kr?nkend, nur Melina empfand nichts davon, er gab vielmehr dem Grafen vollkommen recht und versetzte mit ehrfurchtsvoller Miene: "Ach ja, es hat wohl ihm und mehreren von uns nur ein solcher Kenner und eine solche Aufmunterung gefehlt, wie wir sie gegenw?rtig an Eurer Exzellenz gefunden haben."
"Ist das die s?mtliche Gesellschaft?" sagte der Graf.
"Es sind einige Glieder abwesend", versetzte der kluge Melina, "und überhaupt k?nnten wir, wenn wir nur Unterstützung f?nden, sehr bald aus der Nachbarschaft vollz?hlig sein."
Indessen sagte Philine zur Gr?fin: "Es ist noch ein recht hübscher junger Mann oben, der sich gewi? bald zum ersten Liebhaber qualifizieren würde."
"Warum l??t er sich nicht sehen?" versetzte die Gr?fin.
"Ich will ihn holen", rief Philine und eilte zur Türe hinaus.
Sie fand Wilhelmen noch mit Mignon besch?ftigt und beredete ihn, mit herunterzugehen. Er folgte ihr mit einigem Unwillen, doch trieb ihn die Neugier: denn da er von vornehmen Personen h?rte, war er voll Verlangen, sie n?her kennenzulernen. Er trat ins Zimmer, und seine Augen begegneten sogleich den Augen der Gr?fin, die auf ihn gerichtet waren. Philine zog ihn zu der Dame, indes der Graf sich mit den übrigen besch?ftigte. Wilhelm neigte sich und gab auf verschiedene Fragen, welche die reizende Dame an ihn tat, nicht ohne Verwirrung Antwort. Ihre Sch?nheit, Jugend, Anmut, Zierlichkeit und feines Betragen machten den angenehmsten Eindruck auf ihn, um so mehr, da ihre Reden und Geb?rden mit einer gewissen Schamhaftigkeit, ja man dürfte sagen Verlegenheit begleitet waren. Auch dem Grafen ward er vorgestellt, der aber wenig acht auf ihn hatte, sondern zu seiner Gemahlin ans Fenster trat und sie um etwas zu fragen schien. Man konnte bemerken, da? ihre Meinung auf das lebhafteste mit der seinigen übereinstimmte, ja da? sie ihn eifrig zu bitten und ihn in seiner Gesinnung zu best?rken schien.
Er kehrte sich darauf bald zu der Gesellschaft und sagte: "Ich kann mich gegenw?rtig nicht aufhalten, aber ich will einen Freund zu euch schicken, und wenn ihr billige Bedingungen macht und euch recht viel Mühe geben wollt, so bin ich nicht abgeneigt, euch auf dem Schlosse spielen zu lassen."
Alle bezeugten ihre gro?e Freude darüber, und besonders kü?te Philine mit der gr??ten Lebhaftigkeit der Gr?fin die H?nde.
"Sieht Sie, Kleine", sagte die Dame, indem sie dem leichtfertigen M?dchen die Backen klopfte, "sieht Sie, mein Kind, da kommt Sie wieder zu mir, ich will schon mein Versprechen halten, Sie mu? sich nur besser anziehen." Philine entschuldigte sich, da? sie wenig auf ihre Garderobe zu verwenden habe, und sogleich befahl die Gr?fin ihren Kammerfrauen, einen englischen Hut und ein seidnes Halstuch, die leicht auszupacken waren, heraufzugeben. Nun putzte die Gr?fin selbst Philinen an, die fortfuhr, sich mit einer scheinheiligen, unschuldigen Miene gar artig zu geb?rden und zu betragen.
Der Graf bot seiner Gemahlin die Hand und führte sie hinunter. Sie grü?te die ganze Gesellschaft im Vorbeigehen freundlich und kehrte sich nochmals gegen Wilhelmen um, indem sie mit der huldreichsten Miene zu ihm sagte:
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