Wilhelm Meisters Lehrjahre | Page 8

Johann Wolfgang von Goethe
vor dem größten Auditorium stünde."
Man überlegte nicht lange; das Stück ward bestimmt. Es war eines
derer, die damals in Deutschland großen Beifall fanden und nun
verschollen sind. Einige pfiffen eine Symphonie, jeder besann sich
schnell auf seine Rolle, man fing an und spielte mit der größten
Aufmerksamkeit das Stück durch, und wirklich über Erwartung gut.
Man applaudierte sich wechselsweise; man hatte sich selten so wohl
gehalten.
Als sie fertig waren, empfanden sie alle ein ausnehmendes Vergnügen,
teils über ihre wohlzugebrachte Zeit, teils weil jeder besonders mit sich
zufrieden sein konnte. Wilhelm ließ sich weitläufig zu ihrem Lobe
heraus, und ihre Unterhaltung war heiter und fröhlich.
"Ihr solltet sehen", rief unser Freund, "wie weit wir kommen müßten,
wenn wir unsre übungen auf diese Art fortsetzten und nicht bloß auf
Auswendiglernen, Probieren und Spielen uns mechanisch pflicht- und
handwerksmäßig einschränkten. Wieviel mehr Lob verdienen die
Tonkünstler, wie sehr ergötzen sie sich, wie genau sind sie, wenn sie
gemeinschaftlich ihre übungen vornehmem Wie sind sie bemüht, ihre
Instrumente übereinzustimmen, wie genau halten sie Takt, wie zart

wissen sie die Stärke und Schwäche des Tons auszudrücken! Keinem
fällt es ein, sich bei dem Solo eines andern durch ein vorlautes
Akkompagnieren Ehre zu machen. Jeder sucht in dem Geist und Sinne
des Komponisten zu spielen und jeder das, was ihm aufgetragen ist, es
mag viel oder wenig sein, gut auszudrücken. Sollten wir nicht ebenso
genau und ebenso geistreich zu Werke gehen, da wir eine Kunst treiben,
die noch viel zarter als jede Art von Musik ist, da wir die
gewöhnlichsten und seltensten äußerungen der Menschheit
geschmackvoll und ergötzend darzustellen berufen sind? Kann etwas
abscheulicher sein, als in den Proben zu sudeln und sich bei der
Vorstellung auf Laune und gut Glück zu verlassen? Wir sollten unser
größtes Glück und Vergnügen dareinsetzen, miteinander
übereinzustimmen, um uns wechselsweise zu gefallen, und auch nur
insofern den Beifall des Publikums zu schätzen, als wir ihn uns
gleichsam untereinander schon selbst garantiert hätten. Warum ist der
Kapellmeister seines Orchesters gewisser als der Direktor seines
Schauspiels? Weil dort jeder sich seines Mißgriffs, der das äußere Ohr
beleidigt, schämen muß; aber wie selten hab ich einen Schauspieler
verzeihliche und unverzeihliche Mißgriffe, durch die das innere Ohr so
schnöde beleidigt wird, anerkennen und sich ihrer schämen sehen! Ich
wünschte nur, daß das Theater so schmal wäre als der Draht eines
Seiltänzers, damit sich kein Ungeschickter hinaufwagte, anstatt daß
jetzo ein jeder sich Fähigkeit genug fühlt, darauf zu paradieren."
Die Gesellschaft nahm diese Apostrophe gut auf, indem jeder
überzeugt war, daß nicht von ihm die Rede sein könne, da er sich noch
vor kurzem nebst den übrigen so gut gehalten. Man kam vielmehr
überein, daß man in dem Sinne, wie man angefangen, auf dieser Reise
und künftig, wenn man zusammen bliebe, eine gesellige Bearbeitung
wolle obwalten lassen. Man fand nur, daß, weil dieses eine Sache der
guten Laune und des freien Willens sei, so müsse sich eigentlich kein
Direktor dareinmischen. Man nahm als ausgemacht an, daß unter guten
Menschen die republikanische Form die beste sei; man behauptete, das
Amt eines Direktors müsse herumgehen; er müsse von allen gewählt
werden und eine Art von kleinem Senat ihm jederzeit beigesetzt
bleiben. Sie waren so von diesem Gedanken eingenommen, daß sie
wünschten, ihn gleich ins Werk zu richten.
"Ich habe nichts dagegen", sagte Melina, "wenn ihr auf der Reise einen

solchen Versuch machen wollt; ich suspendiere meine Direktorschaft
gern, bis wir wieder an Ort und Stelle kommen." Er hoffte dabei zu
sparen und manche Ausgaben der kleinen Republik oder dem
Interimsdirektor aufzuwälzen. Nun ging man sehr lebhaft zu Rate, wie
man die Form des neuen Staates aufs beste einrichten wolle.
"Es ist ein wanderndes Reich", sagte Laertes; "wir werden wenigstens
keine Grenzstreitigkeiten haben."
Man schritt sogleich zur Sache und erwählte Wilhelmen zum ersten
Direktor. Der Senat ward bestellt, die Frauen erhielten Sitz und Stimme,
man schlug Gesetze vor, man verwarf, man genehmigte. Die Zeit ging
unvermerkt unter diesem Spiele vorüber, und weil man sie angenehm
zubrachte, glaubte man auch wirklich etwas Nützliches getan und durch
die neue Form eine neue Aussicht für die vaterländische Bühne eröffnet
zu haben.

IV. Buch, 3. Kapitel

Drittes Kapitel
Wilhelm hoffte nunmehr, da er die Gesellschaft in so guter Disposition
sah, sich auch mit ihr über das dichterische Verdienst der Stücke
unterhalten zu können. "Es ist nicht genug", sagte er zu ihnen, als sie
des andern Tages wieder zusammenkamen, "daß der Schauspieler ein
Stück nur so obenhin ansehe, dasselbe nach dem ersten Eindruck
beurteile und ohne Prüfung sein Gefallen oder Mißfallen daran zu
erkennen gebe. Dies ist dem Zuschauer wohl erlaubt, der gerührt und
unterhalten sein, aber eigentlich nicht urteilen will. Der Schauspieler
dagegen soll von dem Stücke und von den Ursachen seines Lobes und
Tadels Rechenschaft geben können: und wie will er das, wenn er nicht
in den Sinn seines
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