wer sich, wenn ich mich so ausdrücken darf, von allem
Beiwesen der Menschheit von Jugend auf reichlich umgeben findet,
gewöhnt sich meist, diese Güter als das Erste und Größte zu betrachten,
und der Wert einer von der Natur schön ausgestatteten Menschheit wird
ihm nicht so deutlich. Das Betragen der Vornehmen gegen Geringere
und auch untereinander ist nach äußern Vorzügen abgemessen; sie
erlauben jedem, seinen Titel, seinen Rang, seine Kleider und Equipage,
nur nicht seine Verdienste geltend zu machen."
Diesen Worten gab die Gesellschaft einen unmäßigen Beifall. Man
fand abscheulich, daß der Mann von Verdienst immer zurückstehen
müsse und daß in der großen Welt keine Spur von natürlichem und
herzlichem Umgang zu finden sei. Sie kamen besonders über diesen
letzten Punkt aus dem Hundertsten ins Tausendste.
"Scheltet sie nicht darüber", rief Wilhelm aus, "bedauert sie vielmehr!
Denn von jenem Glück, das wir als das höchste erkennen, das aus dem
innern Reichtum der Natur fließt, haben sie selten eine erhöhte
Empfindung. Nur uns Armen, die wir wenig oder nichts besitzen, ist es
gegönnt, das Glück der Freundschaft in reichem Maße zu genießen.
Wir können unsre Geliebten weder durch Gnade erheben, noch durch
Gunst befördern, noch durch Geschenke beglücken. Wir haben nichts
als uns selbst. Dieses ganze Selbst müssen wir hingeben und, wenn es
einigen Wert haben soll, dem Freunde das Gut auf ewig versichern.
Welch ein Genuß, welch ein Glück für den Geber und Empfänger! In
welchen seligen Zustand versetzt uns die Treue! Sie gibt dem
vorübergehenden Menschenleben eine himmlische Gewißheit; sie
macht das Hauptkapital unsers Reichtums aus."
Mignon hatte sich ihm unter diesen Worten genähert, schlang ihre
zarten Arme um ihn und blieb mit dem Köpfchen an seine Brust
gelehnt stehen. Er legte die Hand auf des Kindes Haupt und fuhr fort:
"Wie leicht wird es einem Großen, die Gemüter zu gewinnen! wie
leicht eignet er sich die Herzen zu! Ein gefälliges, bequemes, nur
einigermaßen menschliches Betragen tut Wunder, und wie viele Mittel
hat er, die einmal erworbenen Geister festzuhalten. Uns kommt alles
seltner, wird alles schwerer, und wie natürlich ist es, daß wir auf das,
was wir erwerben und leisten, einen größern Wert legen. Welche
rührenden Beispiele von treuen Dienern, die sich für ihre Herren
aufopferten! Wie schön hat uns Shakespeare solche geschildert! Die
Treue ist in diesem Falle ein Bestreben einer edlen Seele, einem
Größern gleich zu werden. Durch fortdauernde Anhänglichkeit und
Liebe wird der Diener seinem Herrn gleich, der ihn sonst nur als einen
bezahlten Sklaven anzusehen berechtigt ist. Ja, diese Tugenden sind nur
für den geringen Stand; er kann sie nicht entbehren, und sie kleiden ihn
schön. Wer sich leicht loskaufen kann, wird so leicht versucht, sich
auch der Erkenntlichkeit zu überheben. Ja, in diesem Sinne glaube ich
behaupten zu können, daß ein Großer wohl Freunde haben, aber nicht
Freund sein könne."
Mignon drückte sich immer fester an ihn.
"Nun gut", versetzte einer aus der Gesellschaft. "Wir brauchen ihre
Freundschaft nicht und haben sie niemals verlangt. Nur sollten sie sich
besser auf Künste verstehen, die sie doch beschützen wollen. Wenn wir
am besten gespielt haben, hat uns niemand zugehört: alles war lauter
Parteilichkeit. Wem man günstig war, der gefiel, und man war dem
nicht günstig, der zu gefallen verdiente. Es war nicht erlaubt, wie oft
das Alberne und Abgeschmackte Aufmerksamkeit und Beifall auf sich
zog."
"Wenn ich abrechne", versetzte Wilhelm, "was Schadenfreude und
Ironie gewesen sein mag, so denk ich, es geht in der Kunst wie in der
Liebe. Wie will der Weltmann bei seinem zerstreuten Leben die
Innigkeit erhalten, in der ein Künstler bleiben muß, wenn er etwas
Vollkommenes hervorzubringen denkt, und die selbst demjenigen nicht
fremd sein darf, der einen solchen Anteil am Werke nehmen will, wie
der Künstler ihn wünscht und hofft.
Glaubt mir, meine Freunde, es ist mit den Talenten wie mit der Tugend:
man muß sie um ihrer selbst willen lieben oder sie ganz aufgeben. Und
doch werden sie beide nicht anders erkannt und belohnt, als wenn man
sie gleich einem gefährlichen Geheimnis im verborgnen üben kann."
"Unterdessen, bis ein Kenner uns auffindet, kann man Hungers sterben",
rief einer aus der Ecke.
"Nicht eben sogleich", versetzte Wilhelm. "Ich habe gesehen, solange
einer lebt und sich rührt, findet er immer seine Nahrung, und wenn sie
auch gleich nicht die reichlichste ist. Und worüber habt ihr euch denn
zu beschweren? Sind wir nicht ganz unvermutet, eben da es mit uns am
schlimmsten aussah, gut aufgenommen und bewirtet worden? Und jetzt,
da es uns noch an nichts gebricht, fällt es uns denn ein, etwas zu
unserer übung zu tun und nur einigermaßen weiterzustreben? Wir
treiben fremde Dinge und entfernen, den Schulkindern ähnlich, alles,
was uns nur an unsre Lektion erinnern könnte."
"Wahrhaftig", sagte Philine, "es ist unverantwortlich! Laßt uns ein
Stück wählen; wir wollen es auf der Stelle spielen. Jeder muß sein
möglichstes tun, als wenn er
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