Wilhelm Meisters Lehrjahre | Page 9

Johann Wolfgang von Goethe
Autors, wenn er nicht in die Absichten desselben
einzudringen versteht? Ich habe den Fehler, ein Stück aus einer Rolle
zu beurteilen, eine Rolle nur an sich und nicht im Zusammenhange mit
dem Stück zu betrachten, an mir selbst in diesen Tagen so lebhaft
bemerkt, daß ich euch das Beispiel erzählen will, wenn ihr mir ein
geneigtes Gehör gönnen wollt.
Ihr kennt Shakespeares unvergleichlichen "Hamlet" aus einer
Vorlesung, die euch schon auf dem Schlosse das größte Vergnügen
machte. Wir setzten uns vor, das Stück zu spielen, und ich hatte, ohne

zu wissen, was ich tat, die Rolle des Prinzen übernommen; ich glaubte
sie zu studieren, indem ich anfing, die stärksten Stellen, die
Selbstgespräche und jene Auftritte zu memorieren, in denen Kraft der
Seele, Erhebung des Geistes und Lebhaftigkeit freien Spielraum haben,
wo das bewegte Gemüt sich in einem gefühlvollen Ausdrucke zeigen
kann.
Auch glaubte ich recht in den Geist der Rolle einzudringen, wenn ich
die Last der tiefen Schwermut gleichsam selbst auf mich nähme und
unter diesem Druck meinem Vorbilde durch das seltsame Labyrinth so
mancher Launen und Sonderbarkeiten zu folgen suchte. So memorierte
ich, und so übte ich mich und glaubte nach und nach mit meinem
Helden zu einer Person zu werden.
Allein je weiter ich kam, desto schwerer ward mir die Vorstellung des
Ganzen, und mir schien zuletzt fast unmöglich, zu einer übersicht zu
gelangen. Nun ging ich das Stück in einer ununterbrochenen Folge
durch, und auch da wollte mir leider manches nicht passen. Bald
schienen sich die Charaktere, bald der Ausdruck zu widersprechen, und
ich verzweifelte fast, einen Ton zu finden, in welchem ich meine ganze
Rolle mit allen Abweichungen und Schattierungen vortragen könnte. In
diesen Irrgängen bemühte ich mich lange vergebens, bis ich mich
endlich auf einem ganz besondern Wege meinem Ziele zu nähern
hoffte.
Ich suchte jede Spur auf, die sich von dem Charakter Hamlets in früher
Zeit vor dem Tode seines Vaters zeigte; ich bemerkte, was unabhängig
von dieser traurigen Begebenheit, unabhängig von den nachfolgenden
schrecklichen Ereignissen dieser interessante Jüngling gewesen war
und was er ohne sie vielleicht geworden wäre.
Zart und edel entsprossen, wuchs die königliche Blume unter den
unmittelbaren Einflüssen der Majestät hervor; der Begriff des Rechts
und der fürstlichen Würde, das Gefühl des Guten und Anständigen mit
dem Bewußtsein der Höhe seiner Geburt entwickelten sich zugleich in
ihm. Er war ein Fürst, ein geborner Fürst, und wünschte zu regieren,
nur damit der Gute ungehindert gut sein möchte. Angenehm von
Gestalt, gesittet von Natur, gefällig von Herzen aus, sollte er das
Muster der Jugend sein und die Freude der Welt werden.
Ohne irgendeine hervorstechende Leidenschaft war seine Liebe zu
Ophelien ein stilles Vorgefühl süßer Bedürfnisse; sein Eifer zu

ritterlichen übungen war nicht ganz original; vielmehr mußte diese Lust
durch das Lob, das man dem Dritten beilegte, geschärft und erhöht
werden; rein fühlend, kannte er die Redlichen und wußte die Ruhe zu
schätzen, die ein aufrichtiges Gemüt an dem offnen Busen eines
Freundes genießt. Bis auf einen gewissen Grad hatte er in Künsten und
Wissenschaften das Gute und Schöne erkennen und würdigen gelernt;
das Abgeschmackte war ihm zuwider, und wenn in seiner zarten Seele
der Haß aufkeimen konnte, so war es nur ebenso viel, als nötig ist, um
bewegliche und falsche Höflinge zu verachten und spöttisch mit ihnen
zu spielen. Er war gelassen in seinem Wesen, in seinem Betragen
einfach, weder im Müßiggange behaglich noch allzu begierig nach
Beschäftigung. Ein akademisches Hinschlendern schien er auch bei
Hofe fortzusetzen. Er besaß mehr Fröhlichkeit der Laune als des
Herzens, war ein guter Gesellschafter, nachgiebig, bescheiden, besorgt,
und konnte eine Beleidigung vergeben und vergessen; aber niemals
konnte er sich mit dem vereinigen, der die Grenzen des Rechten, des
Guten, des Anständigen überschritt.
Wenn wir das Stück wieder zusammen lesen werden, könnt ihr
beurteilen, ob ich auf dem rechten Wege bin. Wenigstens hoffe ich
meine Meinung durchaus mit Stellen belegen zu können."
Man gab der Schilderung lauten Beifall; man glaubte vorauszusehen,
daß sich nun die Handelsweise Hamlets gar gut werde erklären lassen;
man freute sich über diese Art, in den Geist des Schriftstellers
einzudringen. Jeder nahm sich vor, auch irgendein Stück auf diese Art
zu studieren und den Sinn des Verfassers zu entwickeln.

IV. Buch, 4. Kapitel

Viertes Kapitel
Nur einige Tage mußte die Gesellschaft an dem Orte liegenbleiben, und
sogleich zeigten sich für verschiedene Glieder derselben nicht
unangenehme Abenteuer, besonders aber ward Laertes von einer Dame
angereizt, die in der Nachbarschaft ein Gut hatte, gegen die er sich aber
äußerst kalt, ja unartig betrug und darüber von Philinen viele
Spöttereien erdulden mußte. Sie ergriff die Gelegenheit, unserm Freund
die unglückliche Liebesgeschichte zu erzählen, über die der arme
Jüngling dem ganzen weiblichen Geschlechte feind geworden war.

"Wer wird ihm übelnehmen", rief sie aus, "daß er ein Geschlecht haßt,
das ihm so übel mitgespielt hat und ihm alle übel, die
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