Wilhelm Meisters Lehrjahre | Page 8

Johann Wolfgang von Goethe
jedoch aufmerksam auf sie geworden w?re. Endlich gesellte sich ein gespr?chiger Gef?hrte zu ihm und erz?hlte die Ursache der starken Pilgerschaft.
"Zu Hochdorf", sagte er, "wird heute abend eine Kom?die gegeben, wozu sich die ganze Nachbarschaft versammelt."
"Wie!" rief Wilhelm, "in diesen einsamen Gebirgen, zwischen diesen undurchdringlichen W?ldern hat die Schauspielkunst einen Weg gefunden und sich einen Tempel aufgebaut? und ich mu? zu ihrem Feste wallfahrten?"
"Sie werden sich noch mehr wundern", sagte der andere, "wenn Sie h?ren, durch wen das Stück aufgeführt wird. Es ist eine gro?e Fabrik in dem Orte, die viel Leute ern?hrt. Der Unternehmer, der sozusagen von aller menschlichen Gesellschaft entfernt lebt, wei? seine Arbeiter im Winter nicht besser zu besch?ftigen, als da? er sie veranla?t hat, Kom?die zu spielen. Er leidet keine Karten unter ihnen und wünscht sie auch sonst von rohen Sitten abzuhalten. So bringen sie die langen Abende zu, und heute, da des Alten Geburtstag ist, geben sie ihm zu Ehren eine besondere Festlichkeit."
Wilhelm kam zu Hochdorf an, wo er übernachten sollte, und stieg bei der Fabrik ab, deren Unternehmer auch als Schuldner auf seiner Liste stand.
Als er seinen Namen nannte, rief der Alte verwundert aus: "Ei, mein Herr, sind Sie der Sohn des braven Mannes, dem ich so viel Dank und bis jetzt noch Geld schuldig bin? Ihr Herr Vater hat so viel Geduld mit mir gehabt, da? ich ein B?sewicht sein mü?te, wenn ich nicht eilig und fr?hlich bezahlte. Sie kommen eben zur rechten Zeit, um zu sehen, da? es mir Ernst ist."
Er rief seine Frau herbei, welche ebenso erfreut war, den jungen Mann zu sehen; sie versicherte, da? er seinem Vater gleiche, und bedauerte, da? sie ihn wegen der vielen Fremden die Nacht nicht beherbergen k?nne.
Das Gesch?ft war klar und bald berichtigt; Wilhelm steckte ein R?llchen Gold in die Tasche und wünschte, da? seine übrigen Gesch?fte auch so leicht gehen m?chten.
Die Stunde des Schauspiels kam heran, man erwartete nur noch den Oberforstmeister, der endlich auch anlangte, mit einigen J?gern eintrat und mit der gr??ten Verehrung empfangen wurde.
Die Gesellschaft wurde nunmehr ins Schauspielhaus geführt, wozu man eine Scheune eingerichtet hatte, die gleich am Garten lag. Haus und Theater waren, ohne sonderlichen Geschmack, munter und artig genug angelegt. Einer von den Malern, die auf der Fabrik arbeiteten, hatte bei dem Theater in der Residenz gehandlangt und hatte nun Wald, Stra?e und Zimmer, freilich etwas roh, hingestellt. Das Stück hatten sie von einer herumziehenden Truppe geborgt und nach ihrer eigenen Weise zurechtgeschnitten. So wie es war, unterhielt es. Die Intrige, da? zwei Liebhaber ein M?dchen ihrem Vormunde und wechselsweise sich selbst entrei?en wollen, brachte allerlei interessante Situationen hervor. Es war das erste Stück, das unser Freund nach einer so langen Zeit wieder sah; er machte mancherlei Betrachtungen. Es war voller Handlung, aber ohne Schilderung wahrer Charaktere. Es gefiel und erg?tzte. So sind die Anf?nge aller Schauspielkunst. Der rohe Mensch ist zufrieden, wenn er nur etwas vorgehen sieht; der gebildete will empfinden, und Nachdenken ist nur dem ganz ausgebildeten angenehm.
Den Schauspielern h?tte er hie und da gerne nachgeholfen; denn es fehlte nur wenig, so h?tten sie um vieles besser sein k?nnen.
In seinen stillen Betrachtungen st?rte ihn der Tabaksdampf, der immer st?rker und st?rker wurde. Der Oberforstmeister hatte bald nach Anfang des Stücks seine Pfeife angezündet, und nach und nach nahmen sich mehrere diese Freiheit heraus. Auch machten die gro?en Hunde dieses Herrn schlimme Auftritte. Man hatte sie zwar ausgesperrt; allein sie fanden bald den Weg zur Hintertüre herein, liefen auf das Theater, rannten wider die Akteurs und gesellten sich endlich durch einen Sprung über das Orchester zu ihrem Herrn, der den ersten Platz im Parterre eingenommen hatte.
Zum Nachspiel ward ein Opfer dargebracht. Ein Portr?t, das den Alten in seinem Br?utigamskleide vorstellte, stand auf einem Altar, mit Kr?nzen behangen. Alle Schauspieler huldigten ihm in demutvollen Stellungen. Das jüngste Kind trat, wei? gekleidet, hervor und hielt eine Rede in Versen, wodurch die ganze Familie und sogar der Oberforstmeister, der sich dabei an seine Kinder erinnerte, zu Tr?nen bewegt wurde. So endigte sich das Stück, und Wilhelm konnte nicht umhin, das Theater zu besteigen, die Aktricen in der N?he zu besehen, sie wegen ihres Spiels zu loben und ihnen auf die Zukunft einigen Rat zu geben.
Die übrigen Gesch?fte unsers Freundes, die er nach und nach in gr??ern und kleinern Gebirgsorten verrichtete, liefen nicht alle so glücklich noch so vergnügt ab. Manche Schuldner baten um Aufschub, manche waren unh?flich, manche leugneten. Nach seinem Auftrage sollte er einige verklagen; er mu?te einen Advokaten aufsuchen, diesen instruieren, sich vor Gericht stellen und was dergleichen verdrie?liche Gesch?fte noch mehr waren.
Ebensoschlimm erging es ihm, wenn man ihm eine Ehre erzeigen wollte. Nur wenig Leute fand er, die ihn einigerma?en unterrichten konnten; wenige, mit denen er in ein nützliches Handelsverh?ltnis zu kommen hoffte. Da nun auch unglücklicherweise Regentage einfielen und eine Reise zu Pferd in diesen
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