Wilhelm Meisters Lehrjahre | Page 9

Johann Wolfgang von Goethe
Gegenden mit unertr?glichen Beschwerden verknüpft war, so dankte er dem Himmel, als er sich dem flachen Lande wieder n?herte und am Fu?e des Gebirges in einer sch?nen und fruchtbaren Ebene, an einem sanften Flusse, im Sonnenscheine ein heiteres Landst?dtchen liegen sah, in welchem er zwar keine Gesch?fte hatte, aber eben deswegen sich entschlo?, ein paar Tage daselbst zu verweilen, um sich und seinem Pferde, das von dem schlimmen Wege sehr gelitten hatte, einige Erholung zu verschaffen.

II. Buch, 4. Kapitel--1

Viertes Kapitel
Als er in einem Wirtshause auf dem Markte abtrat, ging es darin sehr lustig, wenigstens sehr lebhaft zu. Eine gro?e Gesellschaft Seilt?nzer, Springer und Gaukler, die einen starken Mann bei sich hatten, waren mit Weib und Kindern eingezogen und machten, indem sie sich auf eine ?ffentliche Erscheinung bereiteten, einen Unfug über den andern. Bald stritten sie mit dem Wirte, bald unter sich selbst; und wenn ihr Zank unleidlich war, so waren die ?u?erungen ihres Vergnügens ganz und gar unertr?glich. Unschlüssig, ob er gehen oder bleiben sollte, stand er unter dem Tore und sah den Arbeitern zu, die auf dem Platze ein Gerüst aufzuschlagen anfingen.
Ein M?dchen, das Rosen und andere Blumen herumtrug, bot ihm ihren Korb dar, und er kaufte sich einen sch?nen Strau?, den er mit Liebhaberei anders band und mit Zufriedenheit betrachtete, als das Fenster eines an der Seite des Platzes stehenden andern Gasthauses sich auftat und ein wohlgebildetes Frauenzimmer sich an demselben zeigte. Er konnte ungeachtet der Entfernung bemerken, da? eine angenehme Heiterkeit ihr Gesicht belebte. Ihre blonden Haare fielen nachl?ssig aufgel?st um ihren Nacken; sie schien sich nach dem Fremden umzusehen. Einige Zeit darauf trat ein Knabe, der eine Frisierschürze umgegürtet und ein wei?es J?ckchen anhatte, aus der Türe jenes Hauses, ging auf Wilhelmen zu, begrü?te ihn und sagte: "Das Frauenzimmer am Fenster l??t Sie fragen, ob Sie ihr nicht einen Teil der sch?nen Blumen abtreten wollen?"--"Sie stehn ihr alle zu Diensten", versetzte Wilhelm, indem er dem leichten Boten das Bouquet überreichte und zugleich der Sch?nen ein Kompliment machte, welches sie mit einem freundlichen Gegengru? erwiderte und sich vom Fenster zurückzog.
Nachdenkend über dieses artige Abenteuer ging er nach seinem Zimmer die Treppe hinauf, als ein junges Gesch?pf ihm entgegensprang, das seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Ein kurzes seidnes Westchen mit geschlitzten spanischen ?rmeln, knappe lange Beinkleider mit Puffen standen dem Kinde gar artig. Lange schwarze Haare waren in Locken und Z?pfen um den Kopf gekr?uselt und gewunden. Er sah die Gestalt mit Verwunderung an und konnte nicht mit sich einig werden, ob er sie für einen Knaben oder für ein M?dchen erkl?ren sollte. Doch entschied er sich bald für das letzte und hielt sie auf, da sie bei ihm vorbeikam, bot ihr einen guten Tag und fragte sie, wem sie angeh?re, ob er schon leicht sehen konnte, da? sie ein Glied der springenden und tanzenden Gesellschaft sein müsse. Mit einem scharfen schwarzen Seitenblick sah sie ihn an, indem sie sich von ihm losmachte und in die Küche lief, ohne zu antworten.
Als er die Treppe hinaufkam, fand er auf dem weiten Vorsaale zwei Mannspersonen, die sich im Fechten übten oder vielmehr ihre Geschicklichkeit aneinander zu versuchen schienen. Der eine war offenbar von der Gesellschaft, die sich im Hause befand, der andere hatte ein weniger wildes Ansehn. Wilhelm sah ihnen zu und hatte Ursache, sie beide zu bewundern, und als nicht lange darauf der schwarzb?rtige, nervige Streiter den Kampfplatz verlie?, bot der andere mit vieler Artigkeit Wilhelmen das Rapier an.
"Wenn Sie einen Schüler", versetzte dieser, "in die Lehre nehmen wollen, so bin ich wohl zufrieden, mit Ihnen einige G?nge zu wagen." Sie fochten zusammen, und obgleich der Fremde dem Ank?mmling weit überlegen war, so war er doch h?flich genug zu versichern, da? alles nur auf übung ankomme; und wirklich hatte Wilhelm auch gezeigt, da? er früher von einem guten und gründlichen deutschen Fechtmeister unterrichtet worden war.
Ihre Unterhaltung ward durch das Get?se unterbrochen, mit welchem die bunte Gesellschaft aus dem Wirtshause auszog, um die Stadt von ihrem Schauspiel zu benachrichtigen und auf ihre Künste begierig zu machen. Einem Tambour folgte der Entrepreneur zu Pferde, hinter ihm eine T?nzerin auf einem ?hnlichen Gerippe, die ein Kind vor sich hielt, das mit B?ndern und Flintern wohl herausgeputzt war. Darauf kam die übrige Truppe zu Fu?, wovon einige auf ihren Schultern Kinder, in abenteuerlichen Stellungen, leicht und bequem dahertrugen, unter denen die junge, schwarzk?pfige, düstere Gestalt Wilhelms Aufmerksamkeit aufs neue erregte.
Pagliasso lief unter der andringenden Menge drollig hin und her und teilte mit sehr begreiflichen Sp??en, indem er bald ein M?dchen kü?te, bald einen Knaben pritschte, seine Zettel aus und erweckte unter dem Volke eine unüberwindliche Begierde, ihn n?her kennenzulernen.
In den gedruckten Anzeigen waren die mannigfaltigen Künste der Gesellschaft, besonders eines Monsieur Narzi? und der Demoiselle Landrinette herausgestrichen, welche beide als Hauptpersonen die Klugheit gehabt hatten, sich von dem Zuge zu enthalten, sich dadurch
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