Wilhelm Meisters Lehrjahre | Page 7

Johann Wolfgang von Goethe
mich ergangen ist, jetzt, da ich die verloren habe, die anstatt einer Gottheit mich zu meinen Wünschen hinüberführen sollte, was bleibt mir übrig, als mich den bittersten Schmerzen zu überlassen? O mein Bruder", fuhr er fort, "ich leugne nicht, sie war mir bei meinen heimlichen Anschl?gen der Kloben, an den eine Strickleiter befestigt ist; gef?hrlich hoffend schwebt der Abenteurer in der Luft, das Eisen bricht, und er liegt zerschmettert am Fu?e seiner Wünsche. Es ist auch nun für mich kein Trost, keine Hoffnung mehr! Ich werde", rief er aus, indem er aufsprang, "von diesen unglückseligen Papieren keines übriglassen." Er fa?te abermals ein paar Hefte an, ri? sie auf und warf sie ins Feuer. Werner wollte ihn abhalten, aber vergebens. "La? mich!" rief Wilhelm, "was sollen diese elenden Bl?tter? Für mich sind sie weder Stufe noch Aufmunterung mehr. Sollen sie übrigbleiben, um mich bis ans Ende meines Lebens zu peinigen? Sollen sie vielleicht einmal der Welt zum Gesp?tte dienen, anstatt Mitleiden und Schauer zu erregen? Weh über mich und über mein Schicksal! Nun verstehe ich erst die Klagen der Dichter, der aus Not weise gewordnen Traurigen. Wie lange hielt ich mich für unzerst?rbar, für unverwundlich, und ach! nun seh ich, da? ein tiefer früher Schade nicht wieder auswachsen, sich nicht wieder herstellen kann; ich fühle, da? ich ihn mit ins Grab nehmen mu?. Nein! keinen Tag des Lebens soll der Schmerz von mir weichen, der mich noch zuletzt umbringt, und auch ihr Andenken soll bei mir bleiben, mit mir leben und sterben, das Andenken der Unwürdigen--ach, mein Freund! wenn ich von Herzen reden soll--der gewi? nicht ganz Unwürdigen! Ihr Stand, ihre Schicksale haben sie tausendmal bei mir entschuldigt. Ich bin zu grausam gewesen, du hast mich in deine K?lte, in deine H?rte unbarmherzig eingeweiht, meine zerrütteten Sinne gefangengehalten und mich verhindert, das für sie und für mich zu tun, was ich uns beiden schuldig war. Wer wei?, in welchen Zustand ich sie versetzt habe, und erst nach und nach f?llt mir's aufs Gewissen, in welcher Verzweiflung, in welcher Hülflosigkeit ich sie verlie?! War's nicht m?glich, da? sie sich entschuldigen konnte? War's nicht m?glich? Wieviel Mi?verst?ndnisse k?nnen die Welt verwirren, wieviel Umst?nde k?nnen dem gr??ten Fehler Vergebung erflehen!--Wie oft denke ich mir sie, in der Stille für sich sitzend, auf ihren Ellenbogen gestützt.--"Das ist", sagt sie, "die Treue, die Liebe, die er mir zuschwur! Mit diesem unsanften Schlag das sch?ne Leben zu endigen, das uns verband!""--Er brach in einen Strom von Tr?nen aus, indem er sich mit dem Gesichte auf den Tisch warf und die übergebliebenen Papiere benetzte.
Werner stand in der gr??ten Verlegenheit dabei. Er hatte sich dieses rasche Auflodern der Leidenschaft nicht vermutet. Etlichemal wollte er seinem Freunde in die Rede fallen, etlichemal das Gespr?ch woandershin lenken, vergebens! er widerstand dem Strome nicht. Auch hier übernahm die ausdauernde Freundschaft wieder ihr Amt. Er lie? den heftigsten Anfall des Schmerzens vorüber, indem er durch seine stille Gegenwart eine aufrichtige, reine Teilnehmung am besten sehen lie?, und so blieben sie diesen Abend; Wilhelm ins stille Nachgefühl des Schmerzens versenkt und der andere erschreckt durch den neuen Ausbruch einer Leidenschaft, die er lange bemeistert und durch guten Rat und eifriges Zureden überw?ltigt zu haben glaubte.

II. Buch, 3. Kapitel

Drittes Kapitel
Nach solchen Rückf?llen pflegte Wilhelm meist nur desto eifriger sich den Gesch?ften und der T?tigkeit zu widmen, und es war der beste Weg, dem Labyrinthe, das ihn wieder anzulocken suchte, zu entfliehen. Seine gute Art, sich gegen Fremde zu betragen, seine Leichtigkeit, fast in allen lebenden Sprachen Korrespondenz zu führen, gaben seinem Vater und dessen Handelsfreunde immer mehr Hoffnung und tr?steten sie über die Krankheit, deren Ursache ihnen nicht bekannt geworden war, und über die Pause, die ihren Plan unterbrochen hatte. Man beschlo? Wilhelms Abreise zum zweitenmal, und wir finden ihn auf seinem Pferde, den Mantelsack hinter sich, erheitert durch freie Luft und Bewegung, dem Gebirge sich n?hern, wo er einige Auftr?ge ausrichten sollte.
Er durchstrich langsam T?ler und Berge mit der Empfindung des gr??ten Vergnügens. überhangende Felsen, rauschende Wasserb?che, bewachsene W?nde, tiefe Gründe sah er hier zum erstenmal, und doch hatten seine frühsten Jugendtr?ume schon in solchen Gegenden geschwebt. Er fühlte sich bei diesem Anblicke wieder verjüngt; alle erduldeten Schmerzen waren aus seiner Seele weggewaschen, und mit v?lliger Heiterkeit sagte er sich Stellen aus verschiedenen Gedichten, besonders aus dem "Pastor fido" vor, die an diesen einsamen Pl?tzen scharenweis seinem Ged?chtnisse zuflossen. Auch erinnerte er sich mancher Stellen aus seinen eigenen Liedern, die er mit einer besondern Zufriedenheit rezitierte. Er belebte die Welt, die vor ihm lag, mit allen Gestalten der Vergangenheit, und jeder Schritt in die Zukunft war ihm voll Ahnung wichtiger Handlungen und merkwürdiger Begebenheiten.
Mehrere Menschen, die aufeinanderfolgend hinter ihm herkamen, an ihm mit einem Gru?e vorbeigingen und den Weg ins Gebirge, durch steile Fu?pfade, eilig fortsetzten, unterbrachen einigemal seine stille Unterhaltung, ohne da? er
Continue reading on your phone by scaning this QR Code

 / 29
Tip: The current page has been bookmarked automatically. If you wish to continue reading later, just open the Dertz Homepage, and click on the 'continue reading' link at the bottom of the page.