Wilhelm Meisters Lehrjahre | Page 6

Johann Wolfgang von Goethe
Menschen an, wie sie nach Glück und Vergnügen rennen! Ihre Wünsche, ihre Mühe, ihr Geld jagen rastlos, und wonach? Nach dem, was der Dichter von der Natur erhalten hat, nach dem Genu? der Welt, nach dem Mitgefühl seiner selbst in andern, nach einem harmonischen Zusammensein mit vielen oft unvereinbaren Dingen.
Was beunruhiget die Menschen, als da? sie ihre Begriffe nicht mit den Sachen verbinden k?nnen, da? der Genu? sich ihnen unter den H?nden wegstiehlt, da? das Gewünschte zu sp?t kommt und da? alles Erreichte und Erlangte auf ihr Herz nicht die Wirkung tut, welche die Begierde uns in der Ferne ahnen l??t. Gleichsam wie einen Gott hat das Schicksal den Dichter über dieses alles hinübergesetzt. Er sieht das Gewirre der Leidenschaften, Familien und Reiche sich zwecklos bewegen, er sieht die unaufl?slichen R?tsel der Mi?verst?ndnisse, denen oft nur ein einsilbiges Wort zur Entwicklung fehlt, uns?glich verderbliche Verwirrungen verursachen. Er fühlt das Traurige und das Freudige jedes Menschenschicksals mit. Wenn der Weltmensch in einer abzehrenden Melancholie über gro?en Verlust seine Tage hinschleicht oder in ausgelassener Freude seinem Schicksale entgegengeht, so schreitet die empf?ngliche, leichtbewegliche Seele des Dichters wie die wandelnde Sonne von Nacht zu Tag fort, und mit leisen überg?ngen stimmt seine Harfe zu Freude und Leid. Eingeboren auf dem Grund seines Herzens w?chst die sch?ne Blume der Weisheit hervor, und wenn die andern wachend tr?umen und von ungeheuren Vorstellungen aus allen ihren Sinnen ge?ngstiget werden, so lebt er den Traum des Lebens als ein Wachender, und das Seltenste, was geschieht, ist ihm zugleich Vergangenheit und Zukunft. Und so ist der Dichter zugleich Lehrer Wahrsager, Freund der G?tter und der Menschen. Wie! willst du, da? er zu einem kümmerlichen Gewerbe heruntersteige? Er, der wie ein Vogel gebaut ist, um die Welt zu überschweben, auf hohen Gipfeln zu nisten und seine Nahrung von Knospen und Früchten, einen Zweig mit dem andern leicht verwechselnd, zu nehmen, er sollte zugleich wie der Stier am Pfluge ziehen, wie der Hund sich auf eine F?hrte gew?hnen oder vielleicht gar, an die Kette geschlossen, einen Meierhof durch sein Bellen sichern?"
Werner hatte, wie man sich denken kann, mit Verwunderung zugeh?rt. "Wenn nur auch die Menschen", fiel er ihm ein, "wie die V?gel gemacht w?ren und, ohne da? sie spinnen und weben, holdselige Tage in best?ndigem Genu? zubringen k?nnten! Wenn sie nur auch bei Ankunft des Winters sich so leicht in ferne Gegenden beg?ben, dem Mangel auszuweichen und sich vor dem Froste zu sichern!"
"So haben die Dichter in Zeiten gelebt, wo das Ehrwürdige mehr erkannt ward", rief Wilhelm aus, "und so sollten sie immer leben. Genugsam in ihrem Innersten ausgestattet, bedurften sie wenig von au?en; die Gabe, sch?ne Empfindungen, herrliche Bilder den Menschen in sü?en, sich an jeden Gegenstand anschmiegenden Worten und Melodien mitzuteilen, bezauberte von jeher die Welt und war für den Begabten ein reichliches Erbteil. An der K?nige H?fen, an den Tischen der Reichen, vor den Türen der Verliebten horchte man auf sie, indem sich das Ohr und die Seele für alles andere verschlo?, wie man sich seligpreist und entzückt stillesteht, wenn aus den Gebüschen, durch die man wandelt, die Stimme der Nachtigall gewaltig rührend hervordringt! Sie fanden eine gastfreie Welt, und ihr niedrig scheinender Stand erh?hte sie nur desto mehr. Der Held lauschte ihren Ges?ngen, und der überwinder der Welt huldigte einem Dichter, weil er fühlte, da? ohne diesen sein ungeheures Dasein nur wie ein Sturmwind vorüberfahren würde; der Liebende wünschte sein Verlangen und seinen Genu? so tausendfach und so harmonisch zu fühlen, als ihn die beseelte Lippe zu schildern verstand; und selbst der Reiche konnte seine Besitztümer, seine Abg?tter, nicht mit eigenen Augen so kostbar sehen, als sie ihm vom Glanz des allen Wert fühlenden und erh?henden Geistes beleuchtet erschienen. Ja, wer hat, wenn du willst, G?tter gebildet, uns zu ihnen erhoben, sie zu uns herniedergebracht, als der Dichter?"
"Mein Freund", versetzte Werner nach einigem Nachdenken, "ich habe schon oft bedauert, da? du das, was du so lebhaft fühlst, mit Gewalt aus deiner Seele zu verbannen strebst. Ich mü?te mich sehr irren, wenn du nicht besser t?test, dir selbst einigerma?en nachzugeben, als dich durch die Widersprüche eines so harten Entsagens aufzureiben und dir mit der einen unschuldigen Freude den Genu? aller übrigen zu entziehen."
"Darf ich dir's gestehen, mein Freund",versetzte der andre, "und wirst du mich nicht l?cherlich finden, wenn ich dir bekenne, da? jene Bilder mich noch immer verfolgen, sosehr ich sie fliehe, und da?, wenn ich mein Herz untersuche, alle frühen Wünsche fest, ja noch fester als sonst darin haften? Doch was bleibt mir Unglücklichem gegenw?rtig übrig? Ach, wer mir vorausgesagt h?tte, da? die Arme meines Geistes so bald zerschmettert werden sollten, mit denen ich ins Unendliche griff und mit denen ich doch gewi? ein Gro?es zu umfassen hoffte, wer mir das vorausgesagt h?tte, würde mich zur Verzweiflung gebracht haben. Und noch jetzt, da das Gericht über
Continue reading on your phone by scaning this QR Code

 / 29
Tip: The current page has been bookmarked automatically. If you wish to continue reading later, just open the Dertz Homepage, and click on the 'continue reading' link at the bottom of the page.