Wilhelm Meisters Lehrjahre | Page 4

Johann Wolfgang von Goethe
und wieviel Geschichten und Erz?hlungen wu?t er nicht zu nutzen. Er trieb's mit solcher Heftigkeit und Grausamkeit Schritt vor Schritt, lie? dem Freunde nicht das Labsal des mindesten augenblicklichen Betruges, vertrat ihm jeden Schlupfwinkel, in welchen er sich vor der Verzweiflung h?tte retten k?nnen, da? die Natur, die ihren Liebling nicht wollte zugrunde gehen lassen, ihn mit Krankheit anfiel, um ihm von der andern Seite Luft zu machen.
Ein lebhaftes Fieber mit seinem Gefolge, den Arzeneien, der überspannung und der Mattigkeit; dabei die Bemühungen der Familie, die Liebe der Mitgebornen, die durch Mangel und Bedürfnisse sich erst recht fühlbar macht, waren so viele Zerstreuungen eines ver?nderten Zustandes und eine kümmerliche Unterhaltung. Erst als er wieder besser wurde, das hei?t, als seine Kr?fte ersch?pft waren, sah Wilhelm mit Entsetzen in den qualvollen Abgrund eines dürren Elendes hinab, wie man in den ausgebrannten, hohlen Becher eines Vulkans hinunterblickt.
Nunmehr machte er sich selbst die bittersten Vorwürfe, da? er nach so gro?em Verlust noch einen schmerzenlosen, ruhigen, gleichgültigen Augenblick haben k?nne. Er verachtete sein eigen Herz und sehnte sich nach dem Labsal des Jammers und der Tr?nen.
Um diese wieder in sich zu erwecken, brachte er vor sein Andenken alle Szenen des vergangenen Glücks. Mit der gr??ten Lebhaftigkeit malte er sie sich aus, strebte wieder in sie hinein, und wenn er sich zur m?glichsten H?he hinaufgearbeitet hatte, wenn ihm der Sonnenschein voriger Tage wieder die Glieder zu beleben, den Busen zu heben schien, sah er rückw?rts auf den schrecklichen Abgrund, labte sein Auge an der zerschmetternden Tiefe, warf sich hinunter und erzwang von der Natur die bittersten Schmerzen. Mit so wiederholter Grausamkeit zerri? er sich selbst; denn die Jugend, die so reich an eingehüllten Kr?ften ist, wei? nicht, was sie verschleudert, wenn sie dem Schmerz, den ein Verlust erregt, noch so viele erzwungene Leiden zugesellt, als wollte sie dem Verlornen dadurch noch erst einen rechten Wert geben. Auch war er so überzeugt, da? dieser Verlust der einzige, der erste und letzte sei, den er in seinem Leben empfinden k?nne, da? er jeden Trost verabscheute, der ihm diese Leiden als endlich vorzustellen unternahm.

II. Buch, 2. Kapitel

Zweites Kapitel
Gew?hnt, auf diese Weise sich selbst zu qu?len, griff er nun auch das übrige, was ihm nach der Liebe und mit der Liebe die gr??ten Freuden und Hoffnungen gegeben hatte, sein Talent als Dichter und Schauspieler, mit h?mischer Kritik von allen Seiten an. Er sah in seinen Arbeiten nichts als eine geistlose Nachahmung einiger hergebrachten Formen, ohne innern Wert; er wollte darin nur steife Schulexerzitien erkennen, denen es an jedem Funken von Naturell, Wahrheit und Begeisterung fehle. In seinen Gedichten fand er nur ein monotones Silbenma?, in welchem, durch einen armseligen Reim zusammengehalten, ganz gemeine Gedanken und Empfindungen sich hinschleppten; und so benahm er sich auch jede Aussicht, jede Lust, die ihn von dieser Seite noch allenfalls h?tte wieder aufrichten k?nnen.
Seinem Schauspielertalente ging es nicht besser. Er schalt sich, da? er nicht früher die Eitelkeit entdeckt, die allein dieser Anma?ung zum Grunde gelegen. Seine Figur, sein Gang, seine Bewegung und Deklamation mu?ten herhalten; er sprach sich jede Art von Vorzug, jedes Verdienst, das ihn über das Gemeine emporgehoben h?tte, entscheidend ab und vermehrte seine stumme Verzweiflung dadurch auf den h?chsten Grad. Denn wenn es hart ist, der Liebe eines Weibes zu entsagen, so ist die Empfindung nicht weniger schmerzlich, von dem Umgange der Musen sich loszurei?en, sich ihrer Gemeinschaft auf immer unwürdig zu erkl?ren und auf den sch?nsten und n?chsten Beifall, der unsrer Person, unserm Betragen, unsrer Stimme ?ffentlich gegeben wird, Verzicht zu tun.
So hatte sich denn unser Freund v?llig resigniert und sich zugleich mit gro?em Eifer den Handelsgesch?ften gewidmet. Zum Erstaunen seines Freundes und zur gr??ten Zufriedenheit seines Vaters war niemand auf dem Comptoir und der B?rse, im Laden und Gew?lbe t?tiger als er; Korrespondenz und Rechnungen, und was ihm aufgetragen wurde, besorgte und verrichtete er mit gr??tem Flei? und Eifer. Freilich nicht mit dem heitern Flei?e, der zugleich dem Gesch?ftigen Belohnung ist, wenn wir dasjenige, wozu wir geboren sind, mit Ordnung und Folge verrichten, sondern mit dem stillen Flei?e der Pflicht, der den besten Vorsatz zum Grunde hat, der durch überzeugung gen?hrt und durch ein innres Selbstgefühl belohnt wird; der aber doch oft, selbst dann, wenn ihm das sch?nste Bewu?tsein die Krone reicht, einen vordringenden Seufzer kaum zu ersticken vermag.
Auf diese Weise hatte Wilhelm eine Zeitlang sehr emsig fortgelebt und sich überzeugt, da? jene harte Prüfung vom Schicksale zu seinem Besten veranstaltet worden. Er war froh, auf dem Wege des Lebens sich beizeiten, obgleich unfreundlich genug, gewarnt zu sehen, anstatt da? andere sp?ter und schwerer die Mi?griffe bü?en, wozu sie ein jugendlicher Dünkel verleitet hat. Denn gew?hnlich wehrt sich der Mensch so lange, als er kann, den Toren, den er im Busen hegt, zu verabschieden, einen Hauptirrtum zu bekennen und eine Wahrheit einzugestehen, die ihn zur Verzweiflung bringt.
So entschlossen
Continue reading on your phone by scaning this QR Code

 / 29
Tip: The current page has been bookmarked automatically. If you wish to continue reading later, just open the Dertz Homepage, and click on the 'continue reading' link at the bottom of the page.