Wilhelm Meisters Lehrjahre | Page 4

Johann Wolfgang von Goethe
und fa?te sie bei der Brust. Die Alte lachte ��berlaut. "Ich werde sorgen m��ssen", rief sie aus, "da? sie wieder bald in lange Kleider kommt, wenn ich meines Lebens sicher sein will. Fort, zieht Euch aus! Ich hoffe, das M?dchen wird mir abbitten, was mir der fl��chtige Junker Leids zugef��gt hat; herunter mit dem Rock und immer so fort alles herunter! Es ist eine unbequeme Tracht, und f��r Euch gef?hrlich, wie ich merke. Die Achselb?nder begeistern Euch."
Die Alte hatte Hand an sie gelegt, Mariane ri? sich los. "Nicht so geschwind!" rief sie aus, "ich habe noch heute Besuch zu erwarten."
"Das ist nicht gut", versetzte die Alte. "Doch nicht den jungen, z?rtlichen, unbefiederten Kaufmannssohn?"--"Eben den", versetzte Mariane.
"Es scheint, als wenn die Gro?mut Eure herrschende Leidenschaft werden wollte", erwiderte die Alte spottend; "Ihr nehmt Euch der Unm��ndigen, der Unverm?genden mit gro?em Eifer an. Es mu? reizend sein, als uneigenn��tzige Geberin angebetet zu werden."
"Spotte, wie du willst. Ich lieb ihn! ich lieb ihn! Mit welchem Entz��cken sprech ich zum erstenmal diese Worte aus! Das ist diese Leidenschaft, die ich so oft vorgestellt habe, von der ich keinen Begriff hatte. Ja, ich will mich ihm um den Hals werfen! ich will ihn fassen, als wenn ich ihn ewig halten wollte. Ich will ihm meine ganze Liebe zeigen, seine Liebe in ihrem ganzen Umfang genie?en."
"M??igt Euch", sagte die Alte gelassen, "m??igt Euch! Ich mu? Eure Freude durch ein Wort unterbrechen: Norberg kommt! in vierzehn Tagen kommt er! Hier ist sein Brief, der die Geschenke begleitet hat."
"Und wenn mir die Morgensonne meinen Freund rauben sollte, will ich mir's verbergen. Vierzehn Tage! Welche Ewigkeit! In vierzehn Tagen, was kann da nicht vorfallen, was kann sich da nicht ver?ndern!"
Wilhelm trat herein. Mit welcher Lebhaftigkeit flog sie ihm entgegen! mit welchem Entz��cken umschlang er die rote Uniform! dr��ckte er das wei?e Atlaswestchen an seine Brust! Wer wagte hier zu beschreiben, wem geziemt es, die Seligkeit zweier Liebenden auszusprechen! Die Alte ging murrend beiseite, wir entfernen uns mit ihr und lassen die Gl��cklichen allein.

I. Buch, 2. Kapitel

Zweites Kapitel
Als Wilhelm seine Mutter des andern Morgens begr��?te, er?ffnete sie ihm, da? der Vater sehr verdrie?lich sei und ihm den t?glichen Besuch des Schauspiels n?chstens untersagen werde. "Wenn ich gleich selbst", fuhr sie fort, "manchmal gern ins Theater gehe, so m?chte ich es doch oft verw��nschen, da meine h?usliche Ruhe durch deine unm??ige Leidenschaft zu diesem Vergn��gen gest?rt wird. Der Vater wiederholt immer wozu es nur n��tze sei? Wie man seine Zeit nur so verderben k?nne?"
"Ich habe es auch schon von ihm h?ren m��ssen", versetzte Wilhelm, "und habe ihm vielleicht zu hastig geantwortet; aber um 's Himmels willen, Mutter! ist denn alles unn��tz, was uns nicht unmittelbar Geld in den Beutel bringt, was uns nicht den allern?chsten Besitz verschafft? Hatten wir in dem alten Hause nicht Raum genug? und war es n?tig, ein neues zu bauen? Verwendet der Vater nicht j?hrlich einen ansehnlichen Teil seines Handelsgewinnes zur Versch?nerung der Zimmer? Diese seidenen Tapeten, diese englischen Mobilien, sind sie nicht auch unn��tz? K?nnten wir uns nicht mit geringeren begn��gen? Wenigstens bekenne ich, da? mir diese gestreiften W?nde, diese hundertmal wiederholten Blumen, Schn?rkel, K?rbchen und Figuren einen durchaus unangenehmen Eindruck machen. Sie kommen mir h?chstens vor wie unser Theatervorhang. Aber wie anders ist's, vor diesem zu sitzen! Wenn man noch so lange warten mu?, so wei? man doch, er wird in die H?he gehen, und wir werden die mannigfaltigsten Gegenst?nde sehen, die uns unterhalten, aufkl?ren und erheben."
"Mach es nur m??ig", sagte die Mutter, "der Vater will auch abends unterhalten sein; und dann glaubt er, es zerstreue dich, und am Ende trag ich, wenn er verdrie?lich wird, die Schuld. Wie oft mu?te ich mir das verw��nschte Puppenspiel vorwerfen lassen, das ich euch vor zw?lf Jahren zum Heiligen Christ gab und das euch zuerst Geschmack am Schauspiele beibrachte!"
"Schelten Sie das Puppenspiel nicht, lassen Sie sich Ihre Liebe und Vorsorge nicht gereuen! Es waren die ersten vergn��gten Augenblicke, die ich in dem neuen, leeren Hause geno?; ich sehe es diesen Augenblick noch vor mir, ich wei?, wie sonderbar es mir vorkam, als man uns, nach Empfang der gew?hnlichen Christgeschenke, vor einer T��re niedersetzen hie?, die aus einem andern Zimmer hereinging. Sie er?ffnete sich; allein nicht wie sonst zum Hin- und Widerlaufen, der Eingang war durch eine unerwartete Festlichkeit ausgef��llt. Es baute sich ein Portal in die H?he, das von einem mystischen Vorhang verdeckt war. Erst standen wir alle von ferne, und wie unsere Neugierde gr??er ward, um zu sehen, was wohl Blinkendes und Rasselndes sich hinter der halb durchsichtigen H��lle verbergen m?chte, wies man jedem sein St��hlchen an und gebot uns, in Geduld zu warten.
So sa? nun alles und war still; eine Pfeife gab das Signal, der Vorhang rollte in die H?he und zeigte eine hochrot gemalte Aussicht in den Tempel. Der Hohepriester Samuel erschien mit Jonathan, und
Continue reading on your phone by scaning this QR Code

 / 29
Tip: The current page has been bookmarked automatically. If you wish to continue reading later, just open the Dertz Homepage, and click on the 'continue reading' link at the bottom of the page.