Wie Wiselis Weg gefunden wird Erzahlung | Page 8

Johanna Spyri
mit
dem Wisi und stellte ihm vor, wie leichtsinnig es sei, daß es sich so
schnell mit dem Fabrikarbeiter eingelassen habe. Es kenne ihn ja kaum,
und da sei doch ein anderer, der ihm Jahre lang nachgegangen sei und
ihm gezeigt habe, wie lieb er es habe. Und zuletzt fragte sie es dringend,
ob denn nicht alles noch rückgängig gemacht werden oder doch eine
gute Zeitlang hinausgeschoben werden könne. Es könne noch bei
seinem Vater bleiben, es sei ja noch so jung. Da fing Wisi zu weinen an
und sagte, es habe ganz bestimmt sein Wort gegeben, alles sei
eingerichtet auf die Zeit und dem Vater sei's recht. Nun sagte die
Mutter nichts mehr, aber das arme Wisi weinte immer ärger. Da nahm
sie es bei der Hand und zog es zum Klavier hin, an den Platz, wo es
immer stand, wenn wir zusammen sangen. Sie sagte in ihrem
freundlichen Ton zu ihm: 'Trockne nun deine Tränen, wir wollen noch
einmal zusammen singen.' Dann schlug sie uns das Lied auf, und wir
sangen zusammen:

('Befiehl du deine Wege, Und was dein Herze kränkt, Der allertreusten
Pflege Des, der den Himmel lenkt.)
('Der Wolken, Luft und Winden Gibt Wege, Lauf und Bahn, Der wird
auch Wege finden, Wo dein Fuß gehen kann.')
Wisi ging dann wieder getröstet von uns, die Mutter hatte ihm noch
einige freundliche Worte gesagt.
Aber mich hatte die Sache recht traurig gemacht. Ich hatte ein ganz
bestimmtes Gefühl, daß das arme Wisi seine frohen Tage nun hinter
sich hatte, und dann tat mir der Andres unsäglich leid. Was würde der
sagen? Er sagte aber nie etwas, gar kein Wort, aber ein paar Jahre lang
ging er herum wie ein Schatten und war noch stiller geworden als
vorher. Ich habe auch seither nie mehr sein stillfröhliches Gesicht
gesehen, wie er es damals doch oft gezeigt hat."
"Der arme Kerl!" rief Onkel Max aus. "Hat er denn keine andere Frau
genommen?"
"Ach, nein, Max", entgegnete seine Schwester ein wenig strafend, "wie
konnte er denn, wie kannst du so etwas sagen. Er ist ja die Treue
selbst."
"Das konnte ich ja nicht wissen, liebe Schwester", erwiderte der Bruder
begütigend. "Ich konnte doch nicht voraussehen, daß dein vielseitig
begabter Freund nun auch noch die Unwandelbarkeit an sich trägt.
Aber das Wisi, erzähl weiter von ihm. Ich hoffe wirklich, das lustige
Wisi ist nicht unglücklich geworden, es würde mir leid tun."
"Ich merke schon, Max", sagte die Schwester, "daß du es heimlich mit
dem Wisi hältst und kein Mitleid hast mit dem treuen Andres, dem es
doch fast das Herz abgedrückt hat, daß das Wisi für ihn verloren war."
"Doch, doch", versicherte der Onkel, "ich kann ihm nachfühlen, wie
unglücklich er war. Aber weiter, wie ging's mit dem Wisi? Es hat doch
seine lustigen Augen nicht verweint?"

"Doch, ich glaube schon", fuhr die Schwester fort. "Ich habe Wisi nicht
mehr oft gesehen, es hatte viel zu tun. Ich glaube, der Mann war nicht
eben böse, aber er hatte etwas Rohes, er konnte so grob und
unfreundlich sein, auch mit seinen kleinen Kindern. Wisi hatte gewiß
wenig Freude mehr. Es hatte mehrere nette Kinder, aber sie waren alle
sehr zart, es verlor sie wieder eins nach dem andern. Fünf hatte es
begraben müssen, nur ein einziges ist ihm geblieben, ein feines, zartes
Geschöpfchen, ein kleines Wiseli. Es ist nicht viel größer als unser
Miezchen und ist doch gut drei Jahre älter. Wisis Gesundheit hatte
durch das alles so gelitten, daß man deutlich sehen konnte, was
kommen würde. Und nun ist es auch da, eine schnelle Auszehrung rafft
ihr Leben hin. Ich fürchte, es ist gar keine Hoffnung mehr."
"Nein!" rief Onkel Max erschrocken aus. "Das kann doch nicht sein,
ist's wirklich wahr? Kann man da nichts machen, Marie? Wir wollen
doch gleich nachsehen, vielleicht ist noch zu helfen."
"Ach nein, da ist nicht mehr zu helfen", sagte die Schwester traurig.
"Da war überhaupt nicht mehr zu helfen. Wisi war für all die Arbeit
und Anstrengung viel zu zart."
"Und was macht nun der Mann?" fragte Onkel Max.
"Ach, den habe ich ja ganz vergessen, das hatte das kranke Wisi auch
noch durchzumachen. Es wird nun bald ein Jahr sein, da wurde ihm in
der Fabrik der eine Arm und das Bein so zerschlagen, daß man ihn
halbtot nachhause brachte. Danach konnte er nicht mehr arbeiten. Er
muß kein besonders geduldiger Kranker gewesen sein. Wisi hatte ihn
nun auch noch zu verpflegen zu allem andern. Er starb dann ungefähr
ein halbes Jahr nach dem Unfall. Seither lebt Wisi allein mit dem
Kind."
"Und so blieb von allem gar nichts mehr übrig als ein kleines Wiseli?
Was macht man damit? Aber nein, so traurig wird's doch nicht kommen
müssen. Das Wisi kann noch gesund werden und alles noch kommen,
wie es hätte sein sollen von Anfang an."
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