"Nein, nein, dazu ist es zu spät", entgegnete die Schwester sehr
bestimmt. "Das arme Wisi hat seinen Leichtsinn schwer büßen müssen.
Aber jetzt ist es spät geworden." Und fast erschrocken stand sie auf,
denn über dem Gespräch war die Mitternachtsstunde vorübergegangen.
Seit einiger Zeit schon war der Oberst ganz still geworden, er hatte sich
in seinen Lehnstuhl zurückgelegt und war fest eingeschlafen. Onkel
Max hatte zwar keinen Schlaf, denn mit der Erzählung von dem armen
Wisi waren ihm alle Jugenderinnerungen so lebendig aufgestiegen, daß
er noch eine Menge von Dingen und Persönlichkeiten besprechen
wollte. Aber seine Schwester war unerbittlich, sie hielt die Lampe in
der Hand und drängte zum Aufbruch.
So half denn nichts. Um aber nicht allein die unwillkommene Störung
zu tragen, weckte er seinen Schwager mit einem so gewaltigen Ruck an
seinem Stuhl, daß der Oberst mit einem Schrecken emporschoß, als sei
eine feindliche Bombe auf ihn gefahren. Aber sein Schwager klopfte
ihm friedlich auf die Schulter und sagte: "Es war nur eine leise
Mahnung von seiten deiner Frau, daß wir uns zurückziehen möchten."
Der Rückzug wurde dann vollzogen, und bald stand das Haus auf der
Höhe ganz still im Mondschein da. Und unten am Berg stand eins, da
sollte es auch bald still werden. Jetzt brannte noch ein schwaches
Lämpchen drinnen und warf seinen matten Schimmer durch das
schmale Schubfenster in die monderhellte Nacht hinaus.
3. Kapitel (Auch noch daheim)
Um die gleiche Zeit, da die Kinder des Obersten nach Hause gingen,
rannte das kleine Wiseli aus allen Kräften den Berg hinunter. Denn es
wußte, daß es länger fortgeblieben war, als die Mutter erwartete, und
das tat es sonst nicht. Aber heute war sein Glück so groß gewesen, daß
es einen Augenblick das Heimgehen vergessen hatte. Jetzt lief es um so
schneller und wäre fast in einen Mann hineingerannt, der eben aus der
Tür des Häuschens trat, als es hineinstürmen wollte. Er ging ihm aber
ganz leise aus dem Weg, und das Wiseli sprang vorwärts in die Stube
hinein und auf die Mutter zu, die auf einem kleinen Stuhl am Fenster
saß und zu Wiselis Erstaunen noch kein Licht angezündet hatte.
"Mutter, bist du böse, daß ich so lang ausgeblieben bin?" rief es und
umarmte sie.
"Nein, nein, Wiseli", antwortete sie freundlich. "Aber ich bin froh, daß
du da bist."
Jetzt fing das Wiseli der Mutter von seinem großen Erlebnis zu
erzählen an, wie gut der Otto zu ihm gewesen war und wie es zweimal
mit dem allerschönsten Schlitten hatte den Berg hinunterfahren können.
Als es dann mit seiner Erzählung fertig war und die Mutter noch immer
so still dasaß, fiel ihm erst ein, daß sie das sonst nicht tat. Es fragte
verwundert: "Aber warum hast du noch kein Licht, Mutter?"
"Ich bin so müde heute abend, Wiseli", antwortete sie. "Ich konnte
nicht aufstehen und Licht machen. Hol das Lämpchen herein und bring
mir einen Schluck Wasser mit, ich habe so großen Durst."
Wiseli lief in die Küche und kam bald zurück, in der einen Hand das
Licht und in der andern eine Flasche, in der ein roter Saft schimmerte,
so hell und einladend, daß die durstende Kranke erfreut ausrief: "Was
bringst du mir Schönes, Wiseli?"
"Ich weiß nicht", sagte das Kind, "es stand auf dem Küchentisch, sieh,
wie es funkelt."
Die Mutter nahm die Flasche in die Hand und roch daran. "Oh", sagte
sie, "wie frische Himbeeren aus dem Wald, gib mir schnell ein wenig
Wasser dazu, Wiseli."
Das Kind goß roten Saft in ein Glas und füllte es mit Wasser, und mit
durstigen Zügen trank die Mutter den erquickenden Beerensaft. "Oh,
wie das erfrischte" sagte sie und übergab das leere Glas dem Kind.
"Stell es weg, Wiseli, aber nicht weit. Mir ist, ich könnte alles
austrinken, so durstig bin ich. Wer hat mir denn diese Flasche gebracht?
Gewiß die Trine, es kommt von der Frau Oberst."
"War denn die Trine bei dir in der Stube, Mutter?" fragte das Kind.
"Nein."
"Dann ist es nicht die Trine, das weiß ich", sagte das Wiseli bestimmt.
"Sie geht jedesmal in die Stube, wenn sie etwas bringt. Aber der
Schreiner Andres war ja bei dir, hat er dies nicht mitgebracht?"
"Ach was, Wiseli", fiel die Mutter ganz lebhaft ein. "Was sagst du denn.
Der Schreiner Andres war nie bei mir, was fällt dir denn ein?"
"Er war sicher, sicher, ganz bestimmt hier drinnen", beteuerte Wiseli.
"Gerade, als ich hereinkam, trat er so schnell aus der Tür, daß ich fast
gegen ihn rannte. Hast du denn nichts gehört?"
Die Mutter war eine Zeit lang ganz still, dann sagte sie: "Ich habe
schon gehört, daß jemand leise die Küchentür aufmachte. Erst meinte
ich, du seist es, und--es ist wahr, erst nachher hörte ich dich
hereinrennen. Bist du sicher, Wiseli, daß es der Schreiner Andres war,
der zu unserer Tür herauskam?"
Wiseli war seiner Sache
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