Wie Wiselis Weg gefunden wird Erzahlung | Page 7

Johanna Spyri
einen Schreckensanfall, wenn ich 'Wisi' sagte. Ich habe aber nie
gewußt, wie das Wisi eigentlich hieß."
"Freilich hast du das gewußt", bemerkte die Schwester, "denn jedesmal
sagte die Mama, es sei eine Barbarei, aus dem schönen Namen Aloise
ein Wisi zu machen."
"Das habe ich wohl jedesmal überhört", meinte Onkel Max. "Aber wo
ist denn das Wisi hingekommen?"
"Du weißt, es war in derselben Klasse mit mir in der Schule, wir sind
miteinander von Klasse zu Klasse gestiegen bis hinauf zur sechsten. Da
kann ich mich ganz gut erinnern, wie alle diese Jahre durch der Andres
als treuster Freund und Beschützer dem Wisi zur Seite stand in Freud
und Leid. Und es konnte den Freund gut brauchen. Meistens, wenn es
zur Schule kam und die Tafel mit Rechnungen bedeckt bringen sollte
wie wir anderen auch, da stand nicht eine Zahl darauf. Es legte sie aber
mit dem lustigsten Gesicht auf die Schulbank hin, und im folgenden

Augenblick stand alles darauf, was darauf stehen sollte. Denn der
Andres hatte schnell die Tafel genommen und die Rechnungen darauf
gesetzt. Oft geschah es auch, daß Wisi in seiner raschen Weise mit dem
Ellbogen eine Scheibe eingeschlagen hatte in der Schulstube, oder es
hatte im Garten an des Schulmeisters Pflaumenbaum geschüttelt. Und
wenn dann Gericht über diese Untaten gehalten wurde, dann blieb
regelmäßig alles auf dem Andres sitzen. Nicht daß er von jemand
angeklagt wurde, sondern er selbst sagte gleich halblaut, er meine, er
habe die Scheibe zerdrückt. Und er glaube auch, er habe an dem
Pflaumenbaum gerüttelt, und so bekam er die Strafe. Wir Kinder
wußten immer ganz gut, wie es war. Aber wir ließen es so gehen. Wir
waren so gewöhnt daran, daß es so sei, und dann hatten wir alle das
lustige Wisi so gern, daß wir's ihm immer gönnten, wenn es ungestraft
davonkam. Und Äpfel und Birnen und Nüsse hatte Wisi immer alle
Taschen voll, die kamen alle vom Andres. Denn was er nur hatte und
erlangen konnte, das stecke er alles dem Wisi in den Schulsack. Ich
dachte manchmal darüber nach, wie es denn sein könne, daß der stille
Andres gerade das allerlustigste und aufgeweckteste Kind der ganzen
Schule am liebsten habe. Und dann sann ich darüber nach, ob es nun
auch gerade den stillen Andres besonders gern habe. Es war wohl
immer freundlich zu ihm, aber so war es auch mit den anderen. Und als
ich einmal ernstlich unsere Mama fragte, wie das wohl sei, da schüttelte
sie ein wenig den Kopf und sagte: 'Ich fürchte, ich fürchte, diese artige
Aloise ist ein wenig leichtsinnig und kann noch in eine schwere Schule
kommen.' Diese Worte gaben mir viel zu denken und kamen mir immer
wieder in den Sinn."
Die Frau Oberst sah lächelnd vor sich hin. "Als wir dann zusammen in
den Religionsunterricht gingen, da kam Wisi regelmäßig am
Sonntagabend zu uns herüber, und wir sangen zusammen am Klavier
Choräle. Daran hatte es damals sehr große Freude, es konnte alle die
schönen Lieder auswendig und sang sie mit heller Stimme. Wir hatten
auch unsere Freude an den Abenden, Mama und ich, und auch darüber,
daß Wisi so gern in den Unterricht ging und ihn sich wirklich zu
Herzen nahm. Es war nun ein großes Mädchen geworden und sah recht
gut aus. Seine lustigen Augen hatte es noch, und wenn es auch nie so
kräftig aussah wie die Bauernmädchen im Dorf, so hatte es doch eine

blühende Gesichtsfarbe und war netter als sie alle. Damals war der
Andres noch in der Stadt als Lehrjunge, er kam aber immer über den
Sonntag heim. Dann kam er auch jedesmal zu uns ins Pfarrhaus, und
am liebsten sprach er dann immer mit mir von den vergangenen Tagen
der Schule. Und dann kamen wir immer bald auf das Wisi zu sprechen.
Das kam so im Zusammenhang, und schließlich sprachen wir dann nur
noch von ihm. Dem Andres ging ganz das Herz und der Mund auf bei
diesen Erinnerungen, und während alle Welt längst das Wisi nie anders
also so genannt hatte, nannte er es unwandelbar das 'Wiseli'. Und das
kam dann so ganz eigen zärtlich heraus.
Da kam auch ein Sonntag, als das Wisi und ich noch nicht achtzehn
Jahre alt waren. Gegen Abend trat er bei uns ein und sah ganz rosig aus.
Und als wir nun mit Mama zusammensaßen, da sagte Wisi, es sei
gekommen, uns mitzuteilen, daß es sich mit dem jungen Fabrikarbeiter
versprochen habe, der seit kurzer Zeit im Dorfe wohnte. Sie könnten
gleich heiraten, da er eine gute Anstellung habe unten in der Fabrik,
und so hätten sie denn schon alles festgesetzt, daß sie gleich in zwölf
Tagen zusammenkommen könnten. Ich war so erstaunt und so traurig,
daß ich kein Wort sagen konnte. Eine Zeitlang sagte die Mutter auch
nichts, sie sah ganz bekümmert aus. Dann aber sprach sie ernstlich
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