Wie Wiselis Weg gefunden wird Erzahlung | Page 6

Johanna Spyri
meine Schwester für
den Andres vergossen hatte, und ihr Einschreiten gegen den Tyrannen
wurden nicht vergessen. Von dem Tag an lag jeden Morgen ein Strauß
Veilchen auf ihrem Platz und durchduftete den ganzen Schulraum. Und
nachher kam noch ein anmutigerer Duft von dem Platz her, denn da
lagen große Erdbeersträuße mit den prächtigsten dunkelroten Beeren,
wie sie sonst nirgends zu sehen waren. Und so ging es das ganze Jahr
durch immerfort. Wie sich dann aber die Freundschaft zu dem
erstaunlich hohen Grad entwickelt hat, wo sie nun angelangt ist, das
muß meine Schwester wissen und uns mitteilen."
Der Oberst hatte seine Freude an der Geschichte der Tränen und der
Veilchen und forderte seine Frau auf, weiter zu erzählen.
Sie sagte lachend: "Erdbeeren und Veilchen blühen deiner Ansicht
nach das ganze Jahr durch, Max. Das ist aber nicht ganz so. Aber der
gute Andres wurde wirklich das ganze Jahr durch nicht müde, mir
irgend etwas Erfreuliches aus Feld und Wald zu suchen und an meinen
Platz zu legen, solange wir miteinander zur Schule gingen. Er trat dann
lange vor mir aus und kam in die Lehre zu einem Schreiner in der Stadt.
Er kam aber oft nach Hause, ich verlor ihn nie ganz aus den Augen.
Und als mein Mann dieses Gut kaufte und wir uns eben verheiratet
hatten, handelte es sich darum, daß Andres sich etwas ankaufen und
sich selbständig niederlassen wollte. Er hatte seine Eltern verloren und
stand ganz allein, aber als tüchtiger Arbeiter da. Er hatte seine Augen
auf das Häuschen mit dem sauberen kleinen Garten dort unterhalb der
Kirche gerichtet, konnte es aber nicht ankaufen, da der Verkäufer sofort
bares Geld haben wollte und Andres erst etwas verdienen mußte. Aber
wir kannten ihn und seine Arbeit. Mein Mann kaufte das Gütchen an
für ihn, und er hat es keinen Augenblick zu bereuen gehabt."
"Nein, wahrhaftig nicht", fiel der Oberst ein. "Der brave Andres hat

längst sein Gut vollständig abgezahlt, und seither bringt er mir jedes
Jahr um diese Zeit eine ganz hübsche Summe, den Gewinn seiner
Jahresarbeit. Die lege ich ihm gut an. Er ist jetzt schon ein
wohlhabender Mann, und nun nimmt sein Besitztum jährlich sehr zu.
Er kann sein Häuschen noch zu einem großen Haus machen, der brave
Andres. Es ist nur schade, daß er wie ein Einsiedler lebt und darum sein
erarbeitetes Gut gar nicht genießen kann."
"Hat er denn keine Frau und keine Familie? Und wo ist der bitterböse
Jörg schließlich hingekommen?" fragte Onkel Max weiter.
"Nein, er hat gar niemanden", antwortete die Schwester. "Er lebt völlig
allein, wirklich wie ein Einsiedler. Er hat eine lange, traurige
Geschichte erlebt, die ich mit angesehen habe und die ihm gewiß alle
Lust genommen hat, je eine Frau zu suchen. Der Bruder Jörg ist hier
einige Jahre herumgestrolcht. Er hat nie gearbeitet, sondern gehofft,
durch furchtbares Schimpfen auf alle diejenigen, die keine Lumpen
waren wie er, endlich doch noch sein Glück zu machen. Und als ihm
dies nicht gelang, auch der gute Andres ihm endlich nicht mehr aus
seinen Schulden und allem Bösen heraushelfen konnte und auch nicht
mehr wollte, da ist er verschwunden. Wohin, hat man nie recht gewußt.
Jedermann war froh, daß er fort war."
"Was war denn die traurige Geschichte, Marie?" fragte der Bruder.
"Die muß ich auch noch wissen."
"Und ich auch", sagte der Oberst und zündete zu der Erzählung
vergnüglich eine neue Zigarre an.
"Aber Otto", bemerkte die Frau Oberst, "dir habe ich dieses Erlebnis
wohl schon sechsmal erzählt."
"So?" entgegnete ruhig der Oberst. "Es gefällt mir, wie es scheint."
"So fang an!" ermunterte der Onkel.
"Du mußt dich noch an das Kind erinnern können, Max", begann seine
Schwester, "von dem ich heute abend schon einmal gesprochen habe,

das ganz in unserer Nähe wohnte. Es gehörte dem bleichen, mageren
Leineweber, den wir immer sein Weberschifflein hin- und herwerfen
hörten, wenn wir in unserem Garten standen. Das Kind sah zart und
nett aus und hatte große, lustig glänzende Augen und so schöne braune
Haare. Es hieß Aloise."
"In meinem Leben habe ich keine Aloise gekannt", warf Onkel Max
ein.
"Oh, ich weiß schon, warum", fuhr seine Schwester fort. "Wir nannten
sie auch nie so, besonders du nicht. Wisi nannten wir sie, zum
Schrecken unserer seligen Mama. Weißt du denn nicht mehr, wie oft du
selbst sagtest, wenn wir am Klavier Lieder singen wollten mit Mama
und es so leise tönte: 'Man muß das Wisi holen, sonst geht's nicht'?"
Jetzt stieg die Erinnerung mit einemmal in Onkel Max' Gedächtnis auf.
Er lachte auf und rief: "Oh, das ist's, das Wisi, ja gewiß, das Wisi kenne
ich. Ich sehe es deutlich vor Augen mit dem lustigen Gesicht, wie es
am Klavier stand und so tapfer darauflos sang. Ich mochte es gern, das
Wisi. Es war auch nett anzusehen. Das ist wahr. Die gute Mutter hatte
immer
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