Was die Großmutter gelehrt hat | Page 6

Johanna Spyri
Wald und hinten bei der Mühle, und vor allem war noch die
Kornhalde da. Dort waren ganze Schätze von Erdbeeren zu finden, das
wußten die Kinder alle. Aber die wenigsten trauten sich dort
hinaufzugehen. Da mußte man um das große Kornfeld herum an der
Hecke bis zu dem schmalen Grasstreifen hinaufsteigen, der zwischen
dem Korn und dem großen Moosfelsen lag. Dort, wo die Sonne den
ganzen Tag heiß brannte, schossen die Erdbeeren schon fast rot aus
dem Boden und wurden wie Kirschen so groß.
Aber der Kornbauer, dem das große Feld gehörte, konnte es nicht
leiden, daß die Kinder dort Beeren suchten. Denn er behauptete, sie
zerstampften ihm das Korn, und hier und da mochte es auch geschehen
sein. Wenn er deshalb die Beerensuchenden dort oben traf, jagte er sie
augenblicklich mit den größten Drohungen davon. Und nicht selten
folgte den Drohungen gleich die Erfüllung, denn das Mittel dazu trug er
immer bei sich, das war seine feste knochige Hand. So wagten es nur
die Allerkühnsten, an diesem Streifzug teilzunehmen, und zu denen

gehörte auch das Trini. Eben heute sollte die Unternehmung stattfinden,
denn schon seit dem frühen Morgen schimmerte es oben am
Moosfelsen wie feuriges Gold und blitzte und flammte ins Tal hinab.
Das Trini war zuerst auf dem Platz, von wo man aufbrechen wollte. Es
hatte seinen großen Kratten an einer langen Schnur um den Hals
gebunden, damit es nachher immer mit beiden Händen zugleich rupfen
und die Beeren hineinwerfen konnte. Das ging genau doppelt so schnell
wie bei denen, die mit der linken Hand den Kratten festhalten mußten.
Jetzt kamen die Buben gelaufen, die mit wollten. Mädchen kamen
keine, sie fürchteten sich alle. Nun ging es vorwärts. Aber heute durfte
unterwegs nicht wie sonst geschwatzt und gelacht werden, denn man
wollte nicht, daß der Bauer etwas von der Unternehmung bemerkte.
Sorgsam schritt eines hinter dem anderen die Hecke entlang, denn die
Furcht hatte sie gelehrt, das Korn zu schonen.
Nun waren sie alle oben, und welch eine wundervolle Ernte lag vor
ihnen ausgebreitet! Dunkelrot glühten die großen Beeren zwischen
allen Halmen durch, über alle Blätter hinaus. Es war ein überquellender
Reichtum, man konnte nur so in die Fülle hineinfahren. Mit blitzenden
Augen begann auch das Trini zu pflücken, und bevor die anderen nur
probiert hatten, wie die Beeren schmeckten, hatte es schon den halben
Kratten gefüllt. Mit beiden Händen faßte es immer zu nach allen Seiten
hin, denn da guckten ja immer noch schönere und noch größere hervor.
Aber plötzlich ertönte eine wütende Stimme:
"Ihr Feldratten, seid ihr schon wieder da?" Da stand der kräftige Bauer
mit den knochigen Händen vor ihnen und hob seine Faust in die Höhe.
"Macht, daß ihr auf der Stelle fortkommt und ich keines mehr sehe,
oder..." Wie der Wind waren die Buben alle davongelaufen und
verschwunden. Aber beharrlich rupfte das Trini noch ein, zwei, drei
Beeren weg. Jetzt nur noch die drei großen--nur noch jene zwei--das
Trini konnte sich nicht trennen, die Beeren reuten es gar zu sehr.
"Jetzt weiß ich, wer das Korn zerstampft und so frech ist wie eine
Schärmaus. Mach, daß du den Fleck räumst, und komm mir nicht noch
einmal ans Korn!" drohte der Bauer zornig.
"Ich habe gewiß nie das Korn zerstampft, keine Ähre", versicherte das

Trini, immer noch rupfend, "ich wollte ja nur die Beeren holen."
"Ich kenne dich wohl", brummte der Bauer. "Pack dich, oder ich nehme
dich bei den Ohren und schüttle dich, daß du meinst, du hättest deren
vier am Kopf!"
Der Bauer kam heran. Jetzt schoß das Trini auf und davon. Von seiner
inneren Entrüstung getrieben, daß es alle die schönen Beeren hatte
stehenlassen müssen und doch nie Korn zerstampft hatte, flog es
beinahe, bis es daheim war. Geladen wie eine kleine Kanone, stürzte es
auf die Großmutter los und rief: "Nein, nie habe ich das Korn
zerstampft, keine Ähre ausgerissen und nur die Beeren genommen.
Jetzt fressen sie die Schnecken, und ich wollte auch, der liebe Gott
ließe dem Bauer zur Strafe vier Ohren an den Kopf wachsen, denn ich
habe ihm nichts Böses getan."
"He, he, Trineli, was kommt dir denn in den Sinn?" sagte mahnend die
Großmutter. "Komm, setz dich zu mir nieder, es ist Feierabend. Ein
Licht zünden wir heute nicht an, der Mond scheint hell genug zum
Abendessen. Komm, erzähl mir alles, wie es zugegangen ist."
Daß die Großmutter anhören wollte, was es zu berichten und zu klagen
hatte, besänftigte das Trini schon ein wenig. Es setzte sich hin und
berichtete gern, was es erlebt hatte. Es versicherte, daß es keiner Ähre
etwas zuleide tun wollte, nur die Beeren nehmen, die jetzt von den
Würmern und Schnecken verdorben würden. Als es zu des Bauern
Drohung von den vier Ohren kam, mußte es noch einmal rufen: "Nicht
wahr, Großmutter, wenn ihm zur Strafe jetzt vier Ohren anwachsen
würden, das
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