Was die Großmutter gelehrt hat | Page 5

Johanna Spyri
eine Handvoll erwischen konnte."
Die Großmutter hatte sich sehr über die guten Nachrichten und auch
über den reichlichen Gewinn des Kindes gefreut. Aber jetzt sagte sie
ernsthaft: "Aber Trineli, du stößt doch nicht etwa das Maneli weg,
wenn es einen guten Platz gefunden hat, so daß du dann die Beeren
bekommst? Das wäre nicht recht."
"Doch, freilich, das tue ich schon, das tut man immer, Großmutter",
versicherte das Trini. "Es muß jedes sehen, daß es die meisten und die
schönsten erwischt. Daher geht es dann natürlich immer so rauh zu."
"Nein, nein, das mußt du mit dem kleinen, schwachen Maneli nicht
mehr tun", mahnte die Großmutter. "Siehst du, es kann nicht neben dir
aufkommen, es ist kraftlos und kann sich nicht wehren, und seine
Mutter hätte die Beeren nötig. Sie weiß gewiß manchmal nicht, wo sie
für alle die kleinen Kinder Brot hernehmen soll. Tue das nicht mehr,
Trineli, laß das arme Kleine ein andermal auch zu seinen Beeren
kommen. Aber jetzt setz dich zu mir her", fuhr die Großmutter in einem
anderen Ton fort, "ich habe etwas mit dir zu reden, du bist vernünftig
genug, um es zu verstehen."
Neugierig setzte sich das Kind hin, denn es war noch nie vorgekommen,
daß die Großmutter es so ernst anblickte, um mit ihm zu reden.
"Trineli", fing sie jetzt bedächtig an, "wir müssen daran denken, was du
für Arbeit tun könntest, wenn du nun im Frühling aus der Schule
kommst. Der Vetter aus dem Reußtal ist heute morgen hier gewesen.
Im Herbst könntest du zu ihm hinunterkommen und dir dort in der
Fabrik etwas verdienen. Vielleicht würde es dein Glück sein. Du
könntest von einem Jahr zum anderen weiterkommen und so deinen
Weg machen. Was meinst du dazu?"
"Lieber will ich sterben!" rief das Trini zornig.
"Mußt nicht so unbedacht reden, Trineli", mahnte die Großmutter
freundlich. "Sieh, der Vetter will etwas für dich tun. Er meint es gut,
wir wollen ihn nicht böse machen, wir wollen noch miteinander über

die Sache nachdenken."
"Und wenn der Vetter käme und mich tausendmal töten wollte, so
ginge ich doch nicht!" rief das Trini, und man konnte sehen, wie es
immer wütender wurde.
"Wir wollen jetzt nichts weiter sagen. Wenn es für dich gut ist, so wird
es so sein müssen, Trineli, und dann wollen wir's annehmen und
denken: 'Der liebe Gott schickt's, es muß gut sein'."
Die Großmutter wollte damit das Gespräch beenden, aber das Kind fing
plötzlich an, bitterlich zu weinen. Die Tränen stürzten ihm wie Bäche
aus den Augen, und unter heftigem Schluchzen stieß es hervor:
"Großmutter, wer soll dir dann Holz und Wasser bringen, wenn es kalt
wird? Was willst du denn machen, wenn du wieder im kalten Winter
nicht aufstehen kannst, und es ist kein Mensch bei dir und zündet Feuer
an und macht dir ein wenig Kaffee und bringt ihn dir? Und du bist ganz
allein und kannst nichts machen, und wenn du rufst, so kommt kein
Mensch. Ich gehe nicht, Großmutter, ich kann nicht gehen! Ich kann
nicht!"
"Komm, Trineli, komm", sagte beschwichtigend die Alte, die einen
solchen Ausbruch nicht erwartet hatte, "komm, wir müssen nun unser
Abendbrot essen, und dann wollen wir beten und zu Bett gehen. Über
Nacht hat der liebe Gott auch schon manches anders gemacht, als es am
Abend vorher war."
Aber das Trini mit seiner heftigen Gemütsart war nicht so schnell
wieder im Gleichgewicht. Es konnte keinen Bissen hinunterbringen,
und bis tief in die Nacht hinein hörte die Großmutter sein Schluchzen
und Weinen. Das war ein neuer Kummer für die alte Waschkäthe. Sie
hatte nicht geglaubt, daß das Kind sich so über den Vorschlag des
Vetters aufregen würde.

3. Kapitel
Dem Trini wird etwas Neues verständlich

Mehrere sonnige Tage waren seit dem leidvollen Abend vergangen.
Die Großmutter sagte kein Wort mehr von der drohenden Trennung.
Sie vergaß sie freilich nie und hatte manchen schweren Augenblick zu
ertragen, wenn wieder deutlich vor ihr stand, was ja kommen mußte.
Aber sie wollte nicht mehr davon mit dem Kind reden. Sie hatte ihre
Sache dem lieben Gott anvertraut. Und deshalb konnte sie sich im
stillen immer wieder an der Zuversicht festhalten, wenn das Schwere
kommen müßte, so werde er es für das Kind zum Guten wenden. Als
nun die Großmutter gar nichts mehr sagte und alles wieder wie vorher
war, die Sonne schien und die Vögel wie immer lustig pfiffen, da
dachte das Trini, die Gefahr sei vorüber. Es glaubte, der liebe Gott habe
wirklich, wie die Großmutter gesagt, über Nacht etwas geändert, und
die alte Fröhlichkeit kehrte in Trinis Herz zurück. Jeden Abend, wenn
die Kinder über die Wiesen liefen, hörte man allen anderen voraus
Trinis helle Stimme erschallen:
Erdbeeren rollen, Die Kratten all, die vollen...
Der Sonnenrain war nun ganz abgeerntet, und man mußte
weiterliegende Plätze aufsuchen. Da gab es noch ergiebige Stellen oben
beim
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