Waldwinkel | Page 6

Theodor W. Storm
deutete er auf seinen Pudel, der lustig die
zum oberen Stockwerk führende Treppe hinaufsprang. "Folgen wir
ihm!" sagte er, "dort hinten sind nur noch die Vorratskammern."
Oben angekommen, schloß er die Tür zu einem mäßig großen Zimmer
auf, das bis auf die Vorhänge völlig eingerichtet schien. Die beiden
Fenster, mit denen es über die Wiesenmulde auf den Tannenwald
hinaussah, waren die mittleren von den vieren, welche sie von drüben
aus erblickt hatten. Vor dem zur Linken stand ein weichgepolsterter
Ohrenlehnstuhl, an der Seitenwand des andern ein Schreibtisch mit
vielen Fächern und Schiebladen; neben diesem, bereits im Tick-tack
ihren Pendel schwingend, hing eine kleine Kuckucksuhr, wie sie so
zierlich weit droben im Schwarzwalde verfertigt werden. Eine
altmodische, aber noch wohlerhaltene Tapete, mit rot und violett
blühendem Mohn auf dunkelbraunem Grund, bekleidete die Wände.
Schweigend, aber aufmerksam betrachtete Franziska alles, während sie
dem Alten die Fensterflügel öffnen half.
Zu jeder Seite dieses Blumenzimmers, und durch eine Tür damit

verbunden, lag ein schmaleres; beide nur mit einem Fenster auf den
Tannenwald hinausgehend. In dem zur Linken befanden sich außer
einigen Stühlen nur noch ein eisernes Feldbett und ein paar hohe
Reisekoffer. Franziska warf nur einen flüchtigen Blick hinein, während
ihr Führer schon die Tür des gegenüberliegenden geöffnet hatte,
"Und nun gibt's was zu lesen!" rief dieser. "Der Herr Doktor ist selbst
hier außen gewesen und hat einen ganzen Tag da drin gesessen."
Und wirklich, es war eine stattliche Hausbibliothek, die hier in
sauberem Einband auf offenen Regalen an den Wänden aufgestellt war.
Aber während das Mädchen einen Band von Okens "Isis" herauszog,
der ihr aus des Magisters Pensionat bekannt war, hatte der Alte dem
Fenster gegenüber schon eine weitere Tür erschlossen.
Das Zimmer, in welches sie hineinführte, lag gegen Westen und im
Gegensatz zu den sonnigen Räumen der Vorderseite noch in der
Schattendämmerung des unmittelbar daran grenzenden Waldes.
"Sie müssen nicht erschrecken, Mamsellchen", sagte der Alte, indem er
auf ein Eisengitter zeigte, womit das einzige Fenster nach außen hin
versehen war. "Es ist kein Gefängnis, sondern auch nur so eine
Liebhaberei vom alten Herrn gewesen."
"Ich erschrecke nicht so leicht", sagte das Mädchen, indem sie, ihm
nach, über die Schwelle trat.
"Nun, so wollen wir den Burschen Ihr Gepäck heraufbringen lassen;
denn dort das Bettchen und das Jungfernspiegelchen hier auf der
Kommode werden doch wohl für Sie dahin beordert sein."
Als Franziska ihre Sachen in Empfang genommen und den Burschen
abgelohnt hatte, meinte der Alte: "Und jetzt, Mamsellchen, werd ich
Sie ins Dorf zurückbegleiten; es ist zwar ein Stündchen Wandern, aber
einen guten Eierkuchen wird Ihnen Kaspers Margret schon zu Mittag
backen, und gegen Abend wird der Herr Doktor dort zu Wagen
einkehren, um von mir den Schlüssel in Empfang zu nehmen."
Allein das Mädchen schüttelte den Kopf. "Ich bin nun einmal hier; zu
essen hab ich noch in meiner Reisetasche."
Der Alte rieb sich das bärtige Kinn mit seiner Hand. "Aber ich werde
Sie einschließen müssen; ich muß dem Herrn Doktor selbst den
Schlüssel überliefern."
"Schließen Sie nur, Herr Inspektor!"
"Hm!--Soll ich Ihnen auch den Phylax hierlassen?"

"Den Phylax? Weshalb das? Da könnt's am Ende doch noch auf eine
Hungersnot hinauslaufen."
"Nun, nun; ich dachte nur; er ist so unterhaltsam."
"Aber ich habe keine Langeweile."
"Ja, ja; Sie haben recht."
"Also, Herr Inspektor!"
"Also, Mamsellchen, soll ich schließen?"
Sie nickte ernsthaft; dann, ruhig hinter ihm herschreitend, begleitete sie
den Alten auf den Hof hinab. Als dieser aus der Ringmauer
hinausgetreten und das schwere Tor hinter ihr abgeschlossen war, flog
sie behende in das Haus zurück. Mit dem Kopf an den Fensterbalken
lehnend, blickte sie droben vom Wohnzimmer aus dem Fortgehenden
nach, der eben durch die Kräuter an der jenseitigen Höhe emporschritt.
Als er nebst seinem Hunde drüben zwischen den Föhren verschwunden
war, trat sie in die Mitte des Zimmers zurück; sie erhob ihre kleine
Gestalt auf den Zehen, atmete tief auf, und langsam um sich blickend,
drückte sie beide Hände auf ihr Herz. Ein zufriedenes Lächeln flog
über das in diesem Augenblicke besonders scharf gezeichnete
Gesichtchen.
Gleich darauf ging sie durch die Bibliothek in ihre Kammer, wohin nun
auch der Sonnenschein den Weg gefunden hatte. Vor den Spiegel
tretend, löste sie ihre schweren Flechten, daß das dunkelblonde Haar
wie Wellen an ihr herabflutete. So kniete sie vor ihren Koffer hin,
kramte zwischen ihren Habseligkeiten und räumte sie in die leeren
Schubladen der Kommode. Ein Kästchen mit Saftfarben, Pinseln und
Zeichenstiften, einige Blätter mit nicht ungeschickten
Blumenmalereien waren dabei auch zum Vorschein gekommen. Als
alles geordnet war, flocht sie sich das Haar aufs neue und kleidete sich
dann so zierlich, als der mitgebrachte Vorrat es nur gestatten wollte.
Wie beiläufig hatte sie inzwischen ein paar Butterbrötchen aus ihrer
Reisetasche verzehrt; jetzt, als müsse sie innerhalb dieser Mauern jedes
Fleckchen kennenlernen, schlüpfte sie auf leichten Füßen noch einmal
durch das ganze Haus; durch alle Zimmer, in
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