Waldwinkel | Page 5

Theodor W. Storm
er endlich in diese kühlen Schatten eintrat; über
ihm aus einer hohen Baumkrone schmetterte eine Singdrossel ihren
Gesang ins weite Land hinaus.
Ein Viertelstündchen mochte er so gewandert sein, und der ihn
umgebende Laubwald hatte inzwischen einem Tannenforste Platz
gemacht, als sich, aus einem Seitensteige kommend, zwei andere
Wanderer zu ihm gesellten.
"Geht's denn recht hier nach dem Narrenkasten?"
Ein Bauerbursche fragte es, der einem zwar einfach, aber städtisch
gekleideten Mädchen ihren Koffer nachtrug.
Der Alte nickte. "Ihr könnt nur mit mir gehen."
"Aber ich will zum Waldwinkel", sagte das Mädchen.
"Wird wohl auf eins hinauslaufen. Wenn Sie im Waldwinkel was zu
bestellen haben, so ist's schon richtig hier."
"Ich gehöre dort zum Hause", erwiderte sie.
Der Alte, der bisher seinen Weg ruhig fortgesetzt hatte, wandte sich
nach ihr zurück, und seine Augen blickten immer munterer, während er
sich das junge Wesen ansah. "Nun", sagte er, "die Frau Lewerenz hätte
ich mir, so zu verstehen, um ein paar Jährchen älter vorgestellt."
Aber das Mädchen schien für solche Späße wenig eingenommen. Sie
sah ihn mit ihren grauen Augen an und sagte: "Ich heiße Franziska
Fedders. Die Frau Lewerenz wird wohl mit dem Herrn schon dort
sein."
"Da irren Sie denn doch, Mamsellchen", meinte der Alte, indem er mit
der einen Hand vor ihr den Hut zog und mit der andern ihr den großen
Schlüssel zeigte; "die Herrschaft kommt erst heute abend; aber Einlaß
sollen Sie drum doch schon bekommen."
Sie stutzte; aber nur einen Augenblick ruhte der Zeigefinger an der
Lippe. "Es ist gut", sagte sie, "es paßte nicht anders mit dem Fuhrmann;
lassen Sie uns gehen, Herr Inspektor!"
Und so wanderten sie auf dem schattigen, mit trockenen Tannennadeln
bestreuten Steige miteinander fort; immer riesiger wurden die Föhren,

die zu beiden Seiten aufstiegen und ihre Zweige über sie hinstreckten.
Plötzlich öffnete sich das Dickicht; eine mit Wiesenkräutern
bewachsene, muldenartige Vertiefung, gleich dem Bette eines
verlassenen Flusses, zog sich quer zu ihren Füßen hin, während jenseits
auf der Höhe wiederum ein Eichen- und Buchenwald seine
Laubmassen ausbreitete. Nur ihnen gegenüber zeigte sich eine Lücke,
durch welche man bis zum Horizont auf ein braunes Heideland
hinausblickte. Zur Linken dieser Durchsicht aber, mit der andern Seite
sich hart an den Wald hinandrängend, ragte ein altes Backsteingebäude,
das durch sein hohes Dach ein fast turmartiges Aussehen erhielt; eine
Mauer, über welcher nur die vier Fenster des oberen Stockwerks
sichtbar waren, trat, von den beiden Ecken der Front auslaufend, in
ovaler Rundung fast an den Rand der Wiesenmulde hinaus.
Der Alte, der während des Gehens Franziska von seinen Einzugsmühen
unterhalten hatte, war stehengeblieben und wies schweigend nach dem
mit schwerem Metallbeschlag bedeckten Tore, das sich gegenüber in
der Mitte der Mauer zeigte. Oberhalb desselben in einer
Sandsteinverzierung befand sich eine Inschrift, deren einst vergoldete
Buchstaben bei dem scharfen Sonnenlichte auch aus der Ferne noch
erkennbar waren. "Waldwinkel" buchstabierte Franziska.
"Oho, Phylax!" rief der Inspektor. "Hören Sie ihn, Mamsellchen; er hat
schon meinen Schritt erkannt!"
Aus dem verschlossenen Hofe drüben hatte sich das Bellen eines
Hundes hören lassen; zugleich erhob sich von einem Eichenaste, der
aus dem Walde auf das Dach hinüberlangte, ein großer Raubvogel und
kreiste jetzt, seinen wilden Schrei ausstoßend, hoch über dem einsamen
Bauwerk.
Sie waren indes auf der kaum noch sichtbaren Fortsetzung des
Waldsteiges in die Wiesenmulde hinabgegangen. Die nach Süden
gelegene Frontseite des immer näher vor ihnen aufsteigenden Gebäudes
war von der Sonne hell beleuchtet, sogar an den Drachenköpfen der
Wasserrinnen, welche unterhalb des Daches gegen den Wald
hinausragten, sah man die Reste einstiger Vergoldung schimmern. Von
den beiden Wetterfahnen, mit welchen an den Endpunkten die kurze
First des Daches geziert war, hatte die eine sich fast ganz im grünen
Laub versteckt, während die andere sich regungslos am blauen Himmel
abzeichnete.

Und jetzt war das jenseitige Ufer erstiegen, und der Inspektor hatte den
Schlüssel in dem Bohlentore umgedreht.
Ein schattiger, mit Steinplatten ausgelegter Hof empfing sie, während
der Pudel mit Freudensprüngen an seinem Herrn emporstrebte.--Zur
Linken des Eingangs war ein steinerner Brunnen, neben dem ein
augenscheinlich neu angefertigter, mit Wasser gefüllter Eimer stand; an
der Mauer des Hauses, an welcher eben der Sonnenschein hinabrückte,
wucherten hohe, mit Knospen übersäte Rosenbüsche; die zu beiden
Seiten der Haustür auf den Hof gehenden Fenster wurden fast davon
bedeckt. "Der alte Herr", sagte der Inspektor, "hat sie selber noch
gepflanzt."
Dann traten sie über ein paar Stufen in das Haus.--Zur Linken des Flurs
lag die Küche; zur Rechten ein einfenstriges Zimmer, dessen
Ausrüstung schon die künftige Bewohnerin erkennen ließ. Zwar das
hohe Bettgerüst dort entbehrte noch des Umhanges wie des
schwellenden Inhalts; aber in der Ecke standen Spinnrad und Haspel,
und über der altfränkischen Kommode hing ein desgleichen
Spiegelchen, hinter welchem nur noch die kreuzweis aufgesteckten
Pfauenfedern fehlten. "Also, das ist nicht Ihr Zimmer, Mamsellchen!"
sagte der Alte, noch einmal einen Scherz versuchend.
Als er keine Antwort erhielt,
Continue reading on your phone by scaning this QR Code

 / 25
Tip: The current page has been bookmarked automatically. If you wish to continue reading later, just open the Dertz Homepage, and click on the 'continue reading' link at the bottom of the page.