Vom This, der doch etwas wird | Page 2

Johanna Spyri
auf der Galerie standen drei schöne Nelkenstöcke und
dufteten den ganzen Sommer lang ins Fenster hinein. Eines von den
kleinen, hellen Fenstern stand offen und ließ die schöne, sonnige
Bergluft herein. Dort konnte man meistens eine noch kräftig
aussehende Frau sitzen sehen, mit schönem, weißem Haar, das sie sehr
ordentlich unter das schwarze Häubchen zurückgestrichen hatte. Sie
flickte gewöhnlich an einem Männerhemd aus grobem, festem Stoff,
das aber immer sauber gewaschen war. Die Frau selbst sah auch in
ihrem einfachen Gewand so adrett und reinlich aus, als wäre noch nie
etwas Unsauberes an sie herangekommen. Es war Frau Vizenze, die
Mutter des jungen Sennen, des fröhlichen Franz Anton mit den
kräftigen Armen. Der machte den Sommer über in der oberen
Sennhütte seine Käse, und erst im Spätherbst zog er wieder zur Mutter
herunter, um den Winter bei ihr zu verbringen. Denn dann butterte er in
der unteren Sennhütte, die ganz nahe lag. Da über den reißenden
Schwemmebach kein Steg führte, waren die zwei Häuschen ganz
getrennt. Und Frau Vizenze kannte Leute, die viel weiter weg wohnten,
besser, als diese Nachbarn über dem Bach, zu denen sie nur etwa
einmal am Tag stumm hinüberschaute. Gewöhnlich schüttelte sie dann
in bedenklicher Weise den Kopf, wenn sie die schwarzen Gesichter und
schmutzigen Fetzen drüben an den Kindern sah. Sie schaute aber nicht
oft hinüber, denn der Anblick gefiel ihr nicht. Lieber betrachtete sie,
wenn das Feierabendstündchen kam, ihre roten Nelken auf der Galerie
oder sie schaute über den grünen, sonnigen Abhang hinunter, der vor

ihrem Häuschen zum Tal hinabstieg.
Die verwilderten Kinder über dem Bach gehörten dem Hälmli-Sepp,
wie er genannt wurde, der seine Arbeit außer Haus beim Holzfällen
oder Heumachen suchte. Außerdem trug er auch Lasten den Berg
hinauf. So war er meistens unten im Tal oder auf den Wegen in der
Umgebung. Die Frau hatte genug daheim zu tun. Aber sie schien
anzunehmen, so viele kleine Kinder könne man nicht in Ordnung
halten, und später würde es dann von selbst besser. So ließ sie alles
gehn, wie es ging. Und in der schönen, reinen Luft blieben sie auch alle
gesund und munter und ließen sich's, auf dem Grasboden
herumrutschend und krabbelnd, wohl sein. Zur Sommerzeit waren die
vier Größeren den ganzen Tag draußen, um die Kühe zu hüten. Denn
da geht es nicht zu wie auf den Hochalmen, wo die ganze Herde
zusammen weidet und nur von einem oder zwei Hirten bewacht wird.
Die Leute vom Berghang schickten ihre Kühe auf das umliegende
Weideland hinaus und mußten sie hüten lassen. Das ist immer eine
lustige Zeit für die Buben und Mädchen, die sich dort zu jeder
Tageszeit zusammenfinden und allerlei fröhliche Sachen miteinander
unternehmen. Manchmal waren die Kinder auch weiter unten im Tal
bei der Kartoffelernte, oder sie verrichteten andere leichtere Arbeiten
auf den Feldern. So verdienten sie dann den ganzen Sommer über ihren
Unterhalt und brachten noch manches Geldstück nach Hause, das die
Mutter gut brauchen konnte. Sie hatte ja immer noch die vier Kleinen
zu ernähren und für alle acht die Kleider zu beschaffen. Wenn diese
auch noch so einfach waren, ein Hemdlein mußte doch jedes haben und
die vier Großen noch ein Stück dazu. Eine Kuh hatte der Hälmli-Sepp
auch nicht, wie fast alle Bauern um ihn herum eine besaßen, wenn sie
auch noch so wenig Land dazu hatten.
Hälmli-Sepp hieß der Mann deshalb, weil die Halme auf seinem
Besitztum nicht dick genug waren, um eine Kuh zu erhalten. Er hatte
nur eine Geiß und ein Stück Kartoffelland, damit mußte die Frau mit
den vier Kleinen den Sommer über auskommen und auch hier und da
noch eines der Größeren speisen, wenn es draußen keine Arbeit fand.
Der Vater kam im Winter wohl dann und wann heim, aber er brachte
wenig mit, denn sein Häuschen und Acker waren so verschuldet, daß er

das ganze Jahr über etwas abzuzahlen hatte. Sobald er nur wieder ein
wenig Lohn behalten konnte, kam einer, dem er etwas schuldig war und
nahm ihm weg, soviel er fand.
So mußte die Frau mit den Kindern oft hungern. Sie selbst konnte keine
Ordnung im Haus halten, und die Arbeit ging ihr nie so recht von der
Hand. Sie konnte auch manchmal eine ganze Zeitlang auf der
verfallenen, kleinen Galerie stehenbleiben. Anstatt zu arbeiten, schaute
sie über den Bach zu dem schmucken Häuschen der Sennerin hinüber,
dessen Scheiben in der Sonne glänzten. Dann sagte sie ärgerlich vor
sich hin: "Ja, die dort kann schon putzen und alles sauberhalten, die hat
sonst nichts zu tun, aber unsereiner." Dann ging sie wieder ärgerlich in
die dumpfe, trostlose Stube zurück, und an dem, der ihr zuerst in den
Weg kam, ließ sie den Ärger aus.
Das traf nun meistens einen Buben von zehn oder elf Jahren, der nicht
ihr eigener war, aber schon seit seiner Geburt im Häuschen vom
Hälmli-Sepp wohnte. Dieser
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