Viola Tricolor | Page 6

Theodor W. Storm
nickte nur und drückte ihm still die Hand.--Dann traten sie in ihr
Haus; lebhaft öffnete sie die Stubentür und schlug die Vorhänge
zurück.
Auf dem Tische, wo einst die Vase von den Rosen gestanden hatte,
brannte jetzt eine große Bronzelampe und beleuchtete einen
schwarzhaarigen Kinderkopf, der schlafend auf die mageren Ärmchen
hingesunken war; die Ecken eines Bilderbuches ragten nur eben

darunter hervor.
Die junge Frau blieb wie erstarrt in der Tür stehen; das Kind war ganz
aus ihrem Gedankenkreise verschwunden gewesen. Ein Zug herber
Enttäuschung flog um ihre schönen Lippen. "Du, Nesi!" stieß sie
hervor, als ihr Mann sie vollends in das Zimmer hineingeführt hatte.
"Was machst du denn noch hier?"
Nesi erwachte und sprang auf. "Ich wollte auf euch warten", sagte sie,
indem sie halb lächelnd mit der Hand über ihre blinzelnden Augen
fuhr.
"Das ist unrecht von Anne; du hättest längst zu Bette sein sollen."
Ines wandte sich ab und trat an das Fenster; sie fühlte, wie ihr die
Tränen aus den Augen quollen. Ein unentwirrbares Gemisch von
bitteren Gefühlen wühlte in ihrer Brust; Heimweh, Mitleid mit sich
selber, Reue über ihre Lieblosigkeit gegen das Kind des geliebten
Mannes; sie wußte selber nicht, was alles jetzt sie überkam; aber--und
mit der Wollust und der Ungerechtigkeit des Schmerzes sprach sie es
sich selber vor--das war es: ihrer Ehe fehlte die Jugend, und sie selber
war doch noch so jung!
Als sie sich umwandte, war das Zimmer leer.--Wo war die schöne
Stunde, auf die sie sich gefreut?--Sie dachte nicht daran, daß sie sie
selbst verscheucht hatte.--Das Kind, welches mit fast erschreckten
Augen dem ihm unverständlichen Vorgange zugesehen hatte, war von
dem Vater still hinausgeführt worden.
"Geduld!" sprach er zu sich selber, als er, den Arm um Nesi
geschlungen, mit ihr die Treppe hinaufstieg; und auch er, in einem
andern Sinne, setzte hinzu: "Sie ist ja noch so jung."
Eine Kette von Gedanken und Plänen tauchte in ihm auf; mechanisch
öffnete er das Zimmer, wo Nesi mit der alten Anne schlief und in dem
sie von dieser schon erwartet wurde. Er küßte sie und sprach: "Ich
werde Mama von dir gute Nacht sagen." Dann wollte er zu seiner Frau
hinabgehen; aber er kehrte wieder um und trat am Ende des Korridors

in sein Studierzimmer.
Auf dem Aufsatze des Schreibtisches stand eine kleine Bronzelampe
aus Pompeji, die er kürzlich erst erworben und versucheshalber mit Öl
gefüllt hatte; er nahm sie herab, zündete sie an und stellte sie wieder an
ihren Ort unter das Bildnis der Verstorbenen; ein Glas mit Blumen, das
auf der Platte des Tisches gestanden, setzte er daneben. Er tat dies fast
gedankenlos; nur, als müsse er auch seinen Händen zu tun geben,
während es ihm in Kopf und Herzen arbeitete. Dann trat er dicht
daneben an das Fenster und öffnete beide Flügel desselben.
Der Himmel war voll Wolken; das Licht des Mondes konnte nicht
herabgelangen. Drunten in dem kleinen Garten lag das wuchernde
Gesträuch wie eine dunkle Masse; nur dort, wo zwischen schwarzen
pyramidenförmigen Koniferen der Steig zur Rohrhütte führte,
schimmerte zwischen ihnen der weiße Kies hindurch.
Und aus der Phantasie des Mannes, der in diese Einsamkeit hinabsah,
trat eine liebliche Gestalt, die nicht mehr den Lebenden angehörte; er
sah sie unten auf dem Steige wandeln, und ihm war, als gehe er an ihrer
Seite.
"Laß dein Gedächtnis mich zur Liebe stärken", sprach er; aber die Tote
antwortete nicht; sie hielt den schönen, bleichen Kopf zur Erde geneigt;
er fühlte mit süßem Schauder ihre Nähe, aber Worte kamen nicht von
ihr.
Da bedachte er sich, daß er hier oben ganz allein stehe. Er glaubte an
den vollen Ernst des Todes; die Zeit, wo sie gewesen, war
vorüber.--Aber unter ihm lag noch wie einst der Garten ihrer Eltern;
von seinen Büchern durch das Fenster sehend, hatte er dort zuerst das
kaum fünfzehnjährige Mädchen erblickt; und das Kind mit den blonden
Flechten hatte dem ernsten Manne die Gedanken fortgenommen, immer
mehr, bis sie zuletzt als Frau die Schwelle seines Hauses überschritten
und ihm alles und noch mehr zurückgebracht hatte.--Jahre des Glückes
und freudigen Schaffens waren mit ihr eingezogen; den kleinen Garten
aber, als die Eltern früh verstorben waren und das Haus verkauft wurde,
hatten sie behalten und durch eine Pforte in der Grenzmauer mit dem

großen Garten ihres Hauses verbunden. Fast verborgen war schon
damals diese Pforte unter hängendem Gesträuch, das sie ungehindert
wachsen ließen; denn sie gingen durch dieselbe in den fraulichsten Ort
ihres Sommerlebens, in welchen selbst die Freunde des Hauses nur
selten hineingelassen wurden.--In der Rohrhütte, in welcher er einst
von seinem Fenster aus die jugendliche Geliebte über ihren
Schularbeiten belauscht hatte, saß jetzt zu den Füßen der blonden
Mutter ein Kind mit dunkeln, nachdenklichen Augen; und wenn er nun
den Kopf von seiner Arbeit wandte, so tat er einen Blick in das vollste
Glück des Menschenlebens.--Aber heimlich hatte der Tod
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