Viola Tricolor | Page 5

Theodor W. Storm
seine
kleine Seele zu dir zieht.--Auch über Nesi haben einst zwei selige
Augen so geleuchtet; dann schlang sie den kleinen Arm um einen
Nacken, der sich zu ihr niederbeugte, und sagte: "Mutter!"--Zürne nicht
mit ihr, daß sie es zu keiner andern auf der Welt mehr sagen kann!"
Ines hatte seine Worte kaum gehört; ihre Gedanken verfolgten nur den
einen Punkt. "Wenn du sagen kannst: Sie ist ja nicht dein Kind, warum
sagst du denn nicht auch: Du bist ja nicht mein Weib!"
Und dabei blieb es. Was gingen sie seine Gründe an!
Er zog sie an sich; er suchte sie zu beruhigen; sie küßte ihn und sah ihn

durch Tränen lächelnd an; aber geholfen war ihr damit nicht.-Als
Rudolf sie verlassen hatte, ging sie hinaus in den großen Garten. Bei
ihrem Eintritt sah sie Nesi mit einem Schulbuche in der Hand um den
breiten Rasen wandern, aber sie wich ihr aus und schlug einen
Seitenweg ein, der zwischen Gebüsch an der Gartenmauer
entlangführte.
Dem Kinde war beim flüchtigen Aufblick der Ausdruck von Trauer in
den schönen Augen der Stiefmutter nicht entgangen, und wie
magnetisch nachgezogen, immer lernend und ihre Lektion vor sich her
murmelnd, war auch sie allmählich in jenen Steig geraten.
Ines stand eben vor einer in der hohen Mauer befindlichen Pforte, die
von einem Schlinggewächs mit lila Blüten fast verhangen war. Mit
abwesenden Blicken ruhten ihre Augen darauf, und sie wollte schon
ihre stille Wanderung wieder beginnen, als sie das Kind sich
entgegenkommen sah.
Nun blieb sie stehen und fragte: "Was ist das für eine Pforte, Nesi?"
--"Zu Großmutters Garten!"
"Zu Großmutters Garten?--Deine Großeltern sind doch schon lange
tot!"
"Ja, schon lange, lange."
"Und wem gehört denn jetzt der Garten?"
--"Uns!" sagte das Kind, als verstehe sich das von selbst.
Ines bog ihren schönen Kopf unter das Gesträuch und begann an der
eisernen Klinke der Tür zu rütteln; Nesi stand schweigend dabei, als
wolle sie den Erfolg dieser Bemühungen abwarten.
"Aber er ist ja verschlossen!" rief die junge Frau, indem sie abließ und
mit dem Schnupftuch den Rost von ihren Fingern wischte. "Ist es der
wüste Garten, den man aus Vaters Stubenfenster sieht?"

Das Kind nickte.
--"Horch nur, wie drüben die Vögel singen!"
Inzwischen war die alte Dienerin in den Garten getreten. Als sie die
Stimmen der beiden von der Mauer her vernahm, beeilte sie sich, in
ihre Nähe zu kommen. "Es ist Besuch drinnen", meldete sie.
Ines legte freundlich ihre Hand an Nesis Wange. "Vater ist ein
schlechter Gärtner", sagte sie im Fortgehen, "da müssen wir beide noch
hinein und Ordnung schaffen."
--Im Hause kam Rudolf ihr entgegen.
"Du weißt, das Müllersche Quartett spielt heute abend", sagte er, "die
Doktorsleute sind da und wollen uns vor Unterlassungssünden
warnen."
Als sie zu den Gästen in die Stube getreten waren, entspann sich ein
langes, lebhaftes Gespräch über Musik; dann kamen häusliche
Geschäfte, die noch besorgt werden mußten. Der wüste Garten war für
heut vergessen.
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Am Abend war das Konzert.--Die großen Toten, Haydn und Mozart,
waren an den Hörern vorübergezogen, und eben verklang auch der
letzte Akkord von Beethovens c-Moll-Quartett, und statt der feierlichen
Stille, in der allein die Töne auf und nieder glänzten, rauschte jetzt das
Geplauder der fortdrängenden Zuhörer durch den weiten Raum.
Rudolf stand neben dem Stuhle seiner jungen Frau. "Es ist aus, Ines",
sagte er, sich zu ihr niederbeugend, "oder hörst du noch immer etwas?"
Sie saß noch wie horchend, ihre Augen nach dem Podium gerichtet, auf
dem nur noch die leeren Pulte standen. Jetzt reichte sie ihrem Manne
die Hand. "Laß uns heimgehen, Rudolf", sagte sie aufstehend.
An der Tür wurden sie von ihrem Hausarzte und dessen Frau

aufgehalten, den einzigen Menschen, mit denen Ines bis jetzt in einen
näheren Verkehr getreten war.
"Nun?" sagte der Doktor und nickte ihnen mit dem Ausdruck innerster
Befriedigung zu. "Aber kommen Sie mit uns, es ist ja auf dem Wege;
nach so etwas muß man noch ein Stündchen zusammensitzen."
Rudolf wollte schon mit heiterer Zustimmung antworten, als er sich
leise am Ärmel gezupft fühlte und die Augen seiner Frau mit dem
Ausdrucke dringenden Bittens auf sich gerichtet sah. Er verstand sie
wohl. "Ich verweise die Entscheidung an die höhere Instanz", sagte er
scherzend.
Und Ines wußte unerbittlich den nicht so leicht zu besiegenden Doktor
auf einen andern Abend zu vertrösten.
Als sie am Hause ihrer Freunde sich von diesen verabschiedet hatten,
atmete sie auf wie befreit.
"Was hast du heute gegen unsere lieben Doktorsleute?" fragte Rudolf.
Sie drückte sich fest in den Arm ihres Mannes. "Nichts", sagte sie,
"aber es war so schön heute abend; ich muß nun ganz mit dir allein
sein."
Sie schritten rascher ihrem Hause zu.
"Sieh nur", sagte er, "im Wohnzimmer unten ist schon Licht, unsere
alte Anne wird den Teetisch schon gerüstet haben. Du hattest recht,
daheim ist doch noch besser als bei andern."
Sie
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