Venetianische Epigramme | Page 6

Johann Wolfgang von Goethe

Götter, wie soll ich euch danken! Ihr habt mir Alles gegeben, Was der
Mensch sich erfleht; nur in der Regel fast nichts.
XCIV.
In der Dämmerung des Morgens den höchsten Gipfel erklimmen, Frühe
den Botes des Tags grüßen, dich, freundlichen Stern!
Ungeduldig die
Blicke der Himmelsfürstinn erwarten,
Wonne des Jünglings, wie oft
locktest du Nachts mich heraus! Nun erscheint ihr mir, Boten des Tags,
ihr himmlischen Augen Meiner Geliebten, und stets kommt mir die

Sonne zu früh.
XCV.
Du erstaunest, und zeigst mir das Meer; es scheinet zu brennen. Wie
bewegt sich die Fluth flammend um's nächtliche Schiff!
Mich
verwundert es nicht, das Meer gebar Aphroditen,
Und entsprang nicht
aus ihr uns eine Flamme, der Sohn?
XCVI.
Glänzen sah ich das Meer, und blinken die liebliche Welle;
Frisch mit
günstigem Wind zogen die Segel dahin.
Keine Sehnsucht fühlte mein
Herz; es wendete rückwärts,
Nach dem Schnee des Gebirgs, bald sich
der schmachtende Blick. Südwärts liegen der Schätze, wie viel! Doch
einer im Norden Zieht, ein großer Magnet, unwiderstehlich zurück.
XCVII.
Ach! mein Mädchen verreis't! Sie steigt zu Schiffe! - Mein König,
Aeolus! mächtiger Fürst! halte die Stürme zurück!
Thörichter! ruft
mir der Gott: befürchte nicht wüthende Stürme: Fürchte den Hauch,
wenn sanft Amor die Flügel bewegt!
XCVIII.
Arm und kleiderlos war, als ich sie geworben, das Mädchen;
Damals
gefiel sie mir nackt, wie sie mir jetzt noch gefällt.
XCIX.
Oftmals hab' ich geirrt, und habe mich wieder gefunden,
Aber
glücklicher nie; nun ist dies Mädchen mein Glück!
Ist auch dieses ein
Irrthum, so schont mich, ihr klügeren Götter, Und benehmt mir ihn erst
drüben am kalten Gestad.
C.

Traurig, Midas, war dein Geschick: in bebenden Händen
Fühltest du,
hungriger Greis, schwere verwandelte Kost.
Mir, im ähnlichen Fall,
geht's lust'ger; denn was ich berühre, Wird mir unter der Hand gleich
ein behendes Gedicht.
Holde Musen, ich sträube mich nicht; nur daß
ihr mein Liebchen, Drück' ich es fest an die Brust, nicht mir zum
Mährchen verkehrt?
CI.
Ach, mein Hals ist ein wenig geschwollen! so sagte die Beste
Aengstlich. - Stille, mein Kind! still! und vernehme das Wort: Dich hat
die Hand der Venus berührt; sie deutet die leise,
Daß sie das
Körperchen bald, ach! unaufhaltsam verstellt.
Bald verdirbt sie die
schlanke Gestalt, die zierlichen Brüstchen. Alles schwillt nun; es paßt
nirgends das neuste Gewand.
Sey nur ruhig! es deutet die fallende
Blüthe dem Gärtner,
Daß die liebliche Frucht schwellend im Herbste
gedeiht.
CII.
Wonniglich ist's, die Geliebte verlangend im Arme zu halten, Wenn ihr
klopfendes Herz Liebe zuerst dir gesteht.
Wonniglicher, das Pochen
des Neulebendigen fühlen,
Das in dem lieblichen Schoß immer sich
nährend bewegt.
Schon versucht es die Sprünge der raschen Jugend;
es klopfet Ungeduldig schon an, sehnt sich nach himmlischem Licht.

Harre noch wenige Tage! Auf allen Pfaden des Lebens
Führen die
Horen dich streng, wie es das Schicksal gebeut.
Widerfahre dir, was
dir auch will, du wachsender Jüngling - Liebe bildete dich; werde dir
Liebe zu Theil!
CIII.
Und so tändelt' ich mir, von allen Freunden geschieden,
In der
neptunischen Stadt Tage wie Stunden hinweg.
Alles, was ich erfuhr,
ich würzt' es mit süßer Erinn'rung,
Würzt' es mit Hoffnung; sie sind
lieblichste Würzen der Welt.

CIV.
Sauber hat du dein Volck erlöst durch Wunder und Leiden
Nazarener!
Wohin soll es dein Häufchen, wohin?
Leben sollen sie doch und
Kinder zeugen doch christlich,
Leider dem früheren Reiz dienet die
schädliche Hand.
Will der Jüngling dem Uebel entgehn, sich selbst
nicht verderben, Bringet Lais ihm nur brennende Quaalen für Lust.

Komm noch einmal herab du Gott der Schöpfung und leide,
Komm,
erlöse dein Volck von dem gedoppelten Weh!
Thu ein Wunder und
rein'ge die Quellen der Freud und des Lebens Paulus will ich dir seyn,
Stephanus wie du's gebeutst.
CV.
Heraus mit dem Theile des Herrn! heraus mit dem Theile des Gottes!
Rief ein unglücklich Geschöpf blind für hysterischer Wuth,
Als, die
heiligen Reste Gründonnerstag Abends zu zeigen,
In Sanct Markus
ein Schelm über der Bühne sich wies.
Armes Mädchen was soll dir
ein Theil des gekreuzigten Gottes? Rufe den heilsamern Theil jenes
von Lampsacus her.
CVI.
Wundern kann es mich nicht daß unser Herr Christus mit
Gern und mit Sündern gelebt, gehts mir doch eben auch so.
CVII.
"Warum willst du den Christen des Glaubens selige Wonne
Grausam
rauben?" Nicht ich, niemand vermag es zu thun.
Steht doch deutlich
geschrieben: die Heyden toben vergeblich. Seht, ich erfülle die Schrift,
lest und erbaut euch an mir.
CVIII.
Krebse mit nacktem Hintern, die leere Muscheln sich suchten, Sie
bewohnen und sie wähnen ihr eigenes Haus,
Sind mir seltne

Geschöpfe, sie sind so klug als bedürftig;
Manches kam mir in Sinn,
als ich am Ufer sie sah.
Christ und Mensch ist eins! Sagt Lavater!
Richtig! Die Christen Decken die nackende Schaam weislich mit
Menschenvernunft.
CIX.
In ein Puppenspiel hatt' ich mich Knabe verliebet,
Lange zog es mich
an biß ich es endlich zerschlug.
So griff Lavater iung nach der
gekreuzigten Puppe.
Herz' er betrogen sie noch wenn ihm der Athem
entgeht!
CX.
G u t e n schreibt er, das glaub ich, die Menschen müssen wohl gut
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