Venetianische Epigramme | Page 5

Johann Wolfgang von Goethe
sie
nicht wieder hervor.
Wenn du aber die Winkel nicht scheust, nicht
Gäßchen und Treppchen, Folg' ihr, wie sie dich lockt, in die Spelunke
hinein!
LXIX.
Was Spelunke nun sey, verlangt ihr zu wissen? Da wird ja
Fast zum
Lexikon dies epigrammatische Buch.
Dunkele Häuser sind's in engen
Gäßchen; zum Kaffee
Führt dich die Schöne, und sie zeigt sich
geschäftig, nicht du.
LXX.
Zwey der feinsten Lacerten, sie hielten sich immer zusammen; Eine
beynahe zu groß, eine beynahe zu klein.
Siehst du Beyde zusammen,
so wird die Wahl dir unmöglich;
Jede besonders, sie schien einzig die
Schönste zu seyn.
LXXI.
Heilige Leute, sagt man, sie wollten besonders dem Sünder
Und der

Sünderin wohl. Geht's mir doch eben auch so.
LXXII.
Wär' ich ein häusliches Weib, und hätte, was ich bedürfte,
Treu seyn
wollt' ich und froh, herzen und küssen den Mann.
So sang, unter
andern gemeinen Liedern, ein Dirnchen
Mir in Venedig, und nie hört'
ich ein frömmer Gebet.
LXXIII.
Wundern kann es mich nicht, daß Menschen die Hunde so lieben, Denn
ein erbärmlicher Schuft ist, wie der Mensch, so der Hund.
LXXIV.
Frech wohl bin ich geworden; es ist kein; Wunder, Ihr Götter, Wißt,
und wißt nicht allein, daß ich auch fromm bin und treu.
LXXV.
Hast du nicht gute Gesellschaft gesehn? Es zeigt uns dein Büchlein
Fast nur Gaukler und Volk, ja was noch niedriger ist.
Gute
Gesellschaft hab' ich gesehn, man nennt sie die gute,
Wenn sie zum
kleinsten Gedicht keine Gelegenheit gibt.
LXXVI.
Was mit mir das Schicksal gewollt? Es wäre verwegen,
Das zu fragen;
denn meist will es mit Vielen nicht viel.
Einen Dichter zu bilden, die
Absicht wär' ihm gelungen,
Hätte die Sprache sich nicht
unüberwindlich gezeigt.
LXXVII.
Mit Botanik gibst du dich ab? mit Optik? Was thust du?
Ist es nicht
schönrer Gewinn, rühren ein zärtliches Herz?
Ach, die zärtlichen

Herzen! Ein Pfuscher vermag sie zu rühren; Sey es mein einziges
Glück, dich zu berühren, Natur!
LXXVIII.
Weiß hat Newton gemacht aus allen Farben. Gar Manches
Hat er
euch weis gemacht, das ihr ein Sekulum glaubt.
LXXIX.
"Alles erklärt sich wohl," so sagt mir ein Schüler, "aus jenen Theorien,
die uns weislich der Meister gelehrt."
Habt ihr einmal das Kreuz von
Holze tüchtig gezimmert,
Passt ein lebendiger Leib freylich zur Strafe
daran.
LXXX.
Wenn auf beschwerlichen Reisen ein Jüngling zur Liebsten sich windet,
Hab' er dies Büchlein; es ist reizend und tröstlich zugleich. Und
erwartet dereinst ein Mädchen den Liebsten, sie halte
Dieses
Büchlein, und nur, kommt er, so werfe sie's weg.
LXXXI.
Gleich den Winken des Mädchens, des eilenden, welche verstohlen Im
Vorbeygehn nur freundlich mir streifet den Arm,
So vergönnt, ihr
Musen, dem Reisenden kleine Gedichte:
O, behaltet dem Freund
größere Gunst noch bevor!
LXXXII.
Wenn, in Wolken und Dünste verhüllt, die Sonne nur trübe
Stunden
sendet; wie still wandeln die Pfade wir fort!
Dränget Regen den
Wandrer! wie ist uns des ländlichen Daches Schirm willkommen! Wie
sanft ruht sich's in stürmischer Nacht! Aber die Göttinn kehret zurück!
Schnell scheuche die Nebel
Von der Stirne hinweg! Gleiche der
Mutter Natur!

LXXXIII.
Willst du mit reinem Gefühl der Liebe Freuden genießen,
O, laß
Frechheit und Ernst ferne vom Herzen dir seyn.
D i e will Amorn
verjagen, und d e r gedenkt ihn zu fesseln; Beyden das Gegentheil
lächelt der schelmische Gott.
LXXXIV.
Göttlicher Morpheus, umsonst bewegst du die lieblichen Mohne; Bleibt
das Auge doch wach, wenn mir es Amor nicht schließt.
LXXXV.
Liebe flößest du ein, und Begier; ich fühl' es, und brenne.
Liebenswürdige, nun flöße Vertrauen mir ein!
LXXXVI.
Ha! ich kenne dich, Amor, so gut als einer! Da bringst du
Deine
Fackel, und sie leuchtet im Dunkel uns vor.
Aber du führest uns bald
verworrene Pfade; wir brauchten
Deine Fackel erst recht, ach! und
die falsche erlischt.
LXXXVII.
Eine einzige Nacht an deinem Herzen! - Das Andre
Gibt sich. Es
trennet uns noch Amor in Nebel und Nacht.
Ja, ich erlebe den
Morgen, an dem Aurora die Freunde
Busen an Busen belauscht,
Phöbus, der Frühe, sie weckt.
LXXXVIII.
Ist es dir Ernst, so zaudre nun länger nicht; mache mich glücklich!
Wolltest du scherzen? Es sey, Liebchen, des Scherzes genug!
LXXXIX.

Daß ich schweige, verdrießt dich? Was soll ich reden? Du merkest Auf
der Seufzer, des Blicks leise Beredsamkeit nicht.
Eine Göttinn
vermag der Lippe Siegel zu lösen;
Nur Aurora, sie weckt einst dir am
Busen mich auf.
Ja, dann töne mein Hymnus den frühen Göttern
entgegen,
Wie das Memnonische Bild lieblich Geheimnisse sang.
XC.
Welch ein lustiges Spiel! Es windet am Faden die Scheibe,
Die von
der Hand entfloh, eilig sich wieder herauf!
Seht, so schein' ich Herz,
bald dieser Schönen, bald jener
Zuzuwerfen; doch gleich kehrt es im
Fluge zurück.
XCI.
O, wie achtet' ich sonst auf alle Zeiten des Jahres;
Grüßte den
kommenden Lenz, sehnte dem Herbste mich nach!
Aber nun ist nicht
Sommer noch Winter, seit mich Beglückten Amors Fittig bedeckt,
ewiger Frühling umschwebt.
XCII.
Sage, wie lebst du? Ich lebe! und wären hundert und hundert Jahre dem
Menschen gegönnt, wünscht' ich mir morgen, wie heut.
XCIII.
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