Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten | Page 6

Johann Wolfgang von Goethe
man mit einem gewissen
Kapital, mit Vorschüssen, Einkauf des ersten Materials im großen, mit
Anlegung von Maschinen durch die Hülfe tüchtiger Werkmeister eine
große und solide Einrichtung würde machen können.
Er fühlte sich durch die Idee dieser möglichen Tätigkeit sehr erhoben.
Die herrliche Gegend, in der ihm jeden Augenblick seine geliebte
Ottilie vorschwebte, ließ ihn wünschen, daß sein Vater ihn an diesen
Platz setzen, ihm das neue Etablissement anvertrauen und ihn so auf
eine reichliche und unerwartete Weise ausstatten möchte.
Er sah alles mit größerer Aufmerksamkeit, weil er alles schon als das
Seinige ansah. Er hatte zum erstenmal Gelegenheit, seine Kenntnisse,
seine Geisteskräfte, sein Urteil anzuwenden. Die Gegend sowohl als die
Gegenstände interessierten ihn aufs höchste, sie waren Labsal und
Heilung für sein verwundetes Herz; denn nicht ohne Schmerzen konnte
er sich des väterlichen Hauses erinnern, in welchem er wie in einer Art
von Wahnsinn eine Handlung begehen konnte, die ihm nun das größte
Verbrechen zu sein schien.
Ein Freund seines Hauses, ein wackerer, aber kränklicher Mann, der
selbst den Gedanken eines solchen Etablissements zuerst in Briefen
gegeben hatte, war ihm stets zur Seite, zeigte ihm alles, machte ihn mit

seinen Ideen bekannt und freute sich, wenn ihm der junge Mensch
entgegen-, ja zuvorkam. Dieser Mann führte ein sehr einfaches Leben
teils aus Neigung, teils weil seine Gesundheit es so forderte. Er hatte
keine Kinder, eine Nichte pflegte ihn, der er sein Vermögen zugedacht
hatte, der er einen wackern und tätigen Mann wünschte, um mit
Unterstützung eines fremden Kapitals und frischer Kräfte dasjenige
ausgeführt zu sehen, wovon er zwar einen Begriff hatte, wovon ihn
aber seine physischen und ökonomischen Umstände zurückhielten.
Kaum hatte er Ferdinanden gesehen, als ihm dieser sein Mann zu sein
schien, und seine Hoffnung wuchs, als er soviel Neigung des jungen
Menschen zum Geschäft und zu der Gegend bemerkte. Er ließ seiner
Nichte seine Gedanken merken, und diese schien nicht abgeneigt. Sie
war ein junges, wohlgebildetes, gesundes und auf jede Weise
gutgeartetes Mädchen. Die Sorgfalt für ihres Oheims Haushaltung
erhielt sie immer rasch und tätig und die Sorge für seine Gesundheit
immer weich und gefällig. Man konnte sich zur Gattin keine
vollkommnere Person wünschen.
Ferdinand, der nur die Liebenswürdigkeit und die Liebe Ottiliens vor
Augen hatte, sah über das gute Landmädchen hinweg oder wünschte,
wenn Ottilie einst als seine Gattin in diesen Gegenden wohnen würde,
ihr eine solche Haushälterin und Beschließerin beigeben zu können. Er
erwiderte die Freundlichkeit und Gefälligkeit des Mädchens auf eine
sehr ungezwungene Weise, er lernte sie näher kennen und sie schätzen;
er begegnete ihr bald mit mehrerer Achtung, und sowohl sie als ihr
Oheim legten sein Betragen nach ihren Wünschen aus.
Ferdinand hatte sich nunmehr genau umgesehen und von allem
unterrichtet. Er hatte mit Hülfe des Oheims einen Plan gemacht und
nach seiner gewöhnlichen Leichtigkeit nicht verborgen, daß er darauf
rechne, selbst den Plan auszuführen. Zugleich hatte er der Nichte viele
Artigkeiten gesagt und jede Haushaltung glücklich gepriesen, die einer
so sorgfältigen Wirtin überlassen werden könnte. Sie und ihr Onkel
glaubten daher, daß er wirklich Absichten habe, und waren in allem um
desto gefälliger gegen ihn.
Nicht ohne Zufriedenheit hatte Ferdinand bei seinen Untersuchungen

gefunden, daß er nicht allein auf die Zukunft vieles von diesem Platze
zu hoffen habe, sondern daß er auch gleich jetzt einen vorteilhaften
Handel schließen, seinem Vater die entwendete Summe wiedererstatten
und sich also von dieser drückenden Last auf einmal befreien könne. Er
eröffnete seinem Freunde die Absicht seiner Spekulation, der eine
außerordentliche Freude darüber hatte und ihm alle mögliche Beihülfe
leistete; ja er wollte seinem jungen Freunde alles auf Kredit verschaffen,
das dieser jedoch nicht annahm, sondern einen Teil davon sogleich von
dem überschusse des Reisegeldes bezahlte und den andern in gehöriger
Frist abzutragen versprach.
Mit welcher Freude er die Waren packen und laden ließ, war nicht
auszusprechen; mit welcher Zufriedenheit er seinen Rückweg antrat,
läßt sich denken. Denn die höchste Empfindung, die der Mensch haben
kann, ist die, wenn er sich von einem Hauptfehler, ja von einem
Verbrechen durch eigne Kraft erhebt und losmacht. Der gute Mensch,
der ohne auffallende Abweichung vom rechten Pfade vor sich
hinwandelt, gleicht einem ruhigen, lobenswürdigen Bürger, da
hingegen jener als ein Held und überwinder Bewunderung und Preis
verdient, und in diesem Sinne scheint das paradoxe Wort gesagt zu sein,
daß die Gottheit selbst an einem zurückkehrenden Sünder mehr Freude
habe als an neunundneunzig Gerechten.
Aber leider konnte Ferdinand durch seine guten Entschlüsse, durch
seine Besserung und Wiedererstattung die traurigen Folgen der Tat
nicht aufheben, die ihn erwarteten und die sein schon wieder beruhigtes
Gemüt aufs neue schmerzlich kränken sollten. Während seiner
Abwesenheit hatte sich das Gewitter zusammengezogen, das gerade bei
seinem Eintritte in das väterliche Haus losbrechen sollte.
Ferdinands Vater war, wie wir wissen, was seine Privatkasse betraf,
nicht der Ordentlichste, die Handlungssachen hingegen wurden von
einem geschickten und genauen Associé sehr richtig
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