Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten | Page 4

Johann Wolfgang von Goethe
jedem billigen Genusse ausschließen, da die
Jugend am empfänglichsten dafür ist! Und mit welchem Rechte tun sie
es? Und wie sind sie zu diesem Rechte gelangt? Soll der Zufall allein
entscheiden, und kann das ein Recht werden, wo der Zufall wirkt?
Lebte der Großvater noch, der seine Enkel wie seine Kinder hielt, es
würde mir viel besser ergehen; er würde es mir nicht am Notwendigen
fehlen lassen; denn ist uns das nicht notwendig, was wir in
Verhältnissen brauchen, zu denen wir erzogen und geboren sind? Der
Großvater würde mich nicht darben lassen, so wenig er des Vaters
Verschwendung zugeben würde. Hätte er länger gelebt, hätte er klar
eingesehen, daß sein Enkel auch wert ist zu genießen, so hätte er
vielleicht in dem Testament mein früheres Glück entschieden. Sogar
habe ich gehört, daß der Großvater eben vom Tode übereilt worden, da

er seinen letzten Willen aufzusetzen gedachte, und so hat vielleicht
bloß der Zufall mir meinen frühern Anteil an einem Vermögen
entzogen, den ich, wenn mein Vater so zu wirtschaften fortfährt, wohl
gar auf immer verlieren kann."
Mit diesen und anderen Sophistereien über Besitz und Recht, über die
Frage, ob man ein Gesetz oder eine Einrichtung, zu denen man seine
Stimme nicht gegeben, zu befolgen brauche, und inwiefern es dem
Menschen erlaubt sei, im stillen von den bürgerlichen Gesetzen
abzuweichen, beschäftigte er sich oft in seinen einsamen,
verdrießlichsten Stunden, wenn er irgend aus Mangel des baren Geldes
eine Lustpartie oder eine andere angenehme Gesellschaft ausschlagen
mußte. Denn schon hatte er kleine Sachen von Wert, die er besaß,
vertrödelt, und sein gewöhnliches Taschengeld wollte keinesweges
hinreichen.
Sein Gemüt verschloß sich, und man kann sagen, daß er in diesen
Augenblicken seine Mutter nicht achtete, die ihm nicht helfen konnte,
und seinen Vater haßte, der ihm nach seiner Meinung überall im Wege
stand.
Zu eben der Zeit machte er eine Entdeckung, die seinen Unwillen noch
mehr erregte. Er bemerkte, daß sein Vater nicht allein kein guter,
sondern auch ein unordentlicher Haushälter war. Denn er nahm oft aus
seinem Schreibtische in der Geschwindigkeit Geld, ohne es
aufzuzeichnen, und fing nachher manchmal wieder an zu zählen und zu
rechnen und schien verdrießlich, daß die Summen mit der Kasse nicht
übereinstimmen wollten. Der Sohn machte diese Bemerkung mehrmals,
und um so empfindlicher ward es ihm, wenn er zu eben der Zeit, da der
Vater nur geradezu in das Geld hineingriff, einen entschiedenen
Mangel spürte.
Zu dieser Gemütsstimmung traf ein sonderbarer Zufall, der ihm eine
reizende Gelegenheit gab, dasjenige zu tun, wozu er nur einen dunkeln
und unentschiedenen Trieb gefühlt hatte.
Sein Vater gab ihm den Auftrag, einen Kasten alter Briefe
durchzusehen und zu ordnen. Eines Sonntags, da er allein war, trug er

ihn durch das Zimmer, wo der Schreibtisch stand, der des Vaters Kasse
enthielt. Der Kasten war schwer; er hatte ihn unrecht gefaßt und wollte
ihn einen Augenblick absetzen oder vielmehr nur anlehnen.
Unvermögend, ihn zu halten, stieß er gewaltsam an die Ecke des
Schreibtisches, und der Deckel desselben flog auf. Er sah nun alle die
Rollen vor sich liegen, zu denen er manchmal nur hineingeschielt hatte,
setzte seinen Kasten nieder und nahm, ohne zu denken und zu
überlegen, eine Rolle von der Seite weg, wo der Vater gewöhnlich sein
Geld zu willkürlichen Ausgaben herzunehmen schien. Er drückte den
Schreibtisch wieder zu und versuchte den Seitenstoß: der Deckel flog
jedesmal auf, und es war so gut, als wenn er den Schlüssel zum Pulte
gehabt hätte.
Mit Heftigkeit suchte er nunmehr jede Vergnügung wieder, die er
bisher hatte entbehren müssen. Er war fleißiger um seine Schöne; alles,
was er tat und vornahm, war leidenschaftlicher; seine Lebhaftigkeit und
Anmut hatten sich in ein heftiges, ja beinahe wildes Wesen verwandelt,
das ihm zwar nicht übel ließ, doch niemanden wohltätig war.
Was der Feuerfunke auf ein geladnes Gewehr, das ist die Gelegenheit
zur Neigung, und jede Neigung, die wir gegen unser Gewissen
befriedigen, zwingt uns, ein übermaß von physischer Stärke
anzuwenden; wir handeln wieder als wilde Menschen, und es wird
schwer, äußerlich diese Anstrengung zu verbergen.
Je mehr ihm seine innere Empfindung widersprach, desto mehr häufte
Ferdinand künstliche Argumente aufeinander, und desto mutiger und
freier schien er zu handeln, je mehr er sich selbst von einer Seite
gebunden fühlte.
Zu derselbigen Zeit waren allerlei Kostbarkeiten ohne Wert Mode
geworden. Ottilie liebte sich zu schmücken; er suchte einen Weg, sie
ihr zu verschaffen, ohne daß Ottilie selbst eigentlich wußte, woher die
Geschenke kamen. Die Vermutung ward auf einen alten Oheim
geworfen, und Ferdinand war doppelt vergnügt, indem ihm seine
Schöne ihre Zufriedenheit über die Geschenke und ihren Verdacht auf
den Oheim zugleich zu erkennen gab.

Aber um sich und ihr dieses Vergnügen zu machen, mußte er noch
einigemal den Schreibtisch seines Vaters eröffnen, und er tat es mit
desto weniger Sorge, als der Vater zu verschiedenen Zeiten Geld
hineingelegt und herausgenommen hatte, ohne es
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