Gesamtkomplex der
sittlichen Mächte, die in gegenseitiger Durchdringung das Leben bilden;
seine Kraft und Größe nach einer Seite ist seine Schwäche nach der
andern; die durchbrochene Ordnung stellt sich wieder her, die Massen
reagieren gegen ihn und, wo er am höchsten stand, stürzt er am tiefsten;
in dem Augenblick, wo seine Pläne dem Gelingen am nächsten waren,
sinken sie in Staub. Die Götter, die den epischen Helden lieben, hassen
und vernichten den tragischen. Prometheus ist der wahre Typus
tragischer Helden. Cäsar, Xerxes, der in seinem Uebermut den
Hellespont geißelte, Ajax, den Pallas ins Verderben stürzt, sind
tragische Charaktere, die daher auch von den Dichtern, von
Shakespeare, Aeschylus und Sophokles gewählt wurden. Manche
Figuren der Weltgeschichte tragen, je nachdem sie aufgefaßt werden,
mehr den tragischen oder den epischen Charakter, z. B. Napoleon. Im
ersten Stadium seines Lebens, als Obergeneral in Italien und Aegypten
ist er der epische Held, den die Schwinge des Jahrhunderts und die
Strömung der Dinge glück- und sieggewährend trägt; seine Thaten sind
ein sonnenbeglänztes Epos; allmählich isoliert er seine Zwecke; er
verliert sich in eine immer kühnere und einsamere Höhe; die objektive
Welt mit allen endlichen Bedingungen und Verhältnissen, die Völker
mit ihrer nationalen Denkart werden ihm nur der gleichgültige Stoff,
dem er die Form seines idealen Willens aufprägen will; da reagiert eben
diese reale Welt, die sich von keinem Einzelnen aus dem Schwerpunkt
rücken lassen will; die Katastrophe, d. h. das plötzliche Umschlagen
erfolgt und den Vermessenen trifft ein erschütterndes Verderben. So ist
auch bei Alexander dem Großen, bei Kolumbus eine doppelte
Auffassung möglich: epische Helden sind beide, insofern sie nur Organ
des Zeitgeistes sind; der eine öffnet den Orient, der andre den fernen
Occident; beide sind von dem allgemeinen Streben der beengten Völker
nach Erweiterung des Weltbewußtseins zu glücklichem Ziele getragen;
in das Leben beider mischt sich aber bald das tragische Unglück, dem
der eine in der Blüte der Jugend, der andre nach einer Kette von
Kränkungen und Mißgeschicken verfällt.
Die letzte Betrachtung, die wir dem Epos zu widmen haben, betrifft,
nachdem wir die epische Substanz bezeichnet, die epische Haltung, die
Weise der poetischen Behandlung im Epos. Diese wird die einfache
Konsequenz von jener sein, und auch darin kann uns Homer das Muster
sein. Da das Epos in jene frühe Zeit fällt, wo die fühlende Seele in
unmittelbarer Einheit mit der Welt ist und der Wille noch keinen
Kampf mit den Naturtrieben zu bestehen hat, so wird auch die ganze
epische Darstellung von jenem heitern Frieden und jener ungetrübten
Harmonie überall getragen sein. Da ferner der epische Dichter von
einer vergangenen Zeit nur erzählt, da, was er vorträgt, nur durch den
stillen Sinn des Ohres vernommen wird und nicht wie im Drama in
unmittelbar ergreifende Gegenwart tritt, so wird der Gemütsanteil ein
milderer, die Stimmung eine freiere und der Sänger gewinnt Raum zu
plastischer Entfaltung aller Seiten und Umstände, zu ruhiger
Entwicklung und ebenmäßiger Anerkennung auch des Kleinsten und
Geringfügigsten. Im Drama ist der Charakter der Personen gleichsam
nur von einer Seite beleuchtet, insofern sie nämlich durch eine
vorherrschende Leidenschaft, durch eine besondere Stellung zum
System des Ganzen in den tragischen Kollisionsfall verwickelt sind.
Das Epos aber hat nicht einen besonderen Gesichtspunkt, es beleuchtet
die Persönlichkeit von allen Seiten, in allen Beziehungen und stellt den
ganzen Menschen mit verweilender Ausführlichkeit als eine Totalität
von Neigungen, Eigentümlichkeiten und Interessen vor unser geistiges
Auge. Das Drama eilt unruhig durch eine Reihe von immer heftigeren
Dissonanzen seinem Ziele entgegen; von Steigerung zu Steigerung
drängt es der Katastrophe zu; der Zuschauer, zwischen Furcht und
Hoffnung bewegt, in sich selbst geteilt und aus dem Gleichgewicht
harmonischen Selbstgefühls gerissen, findet keine Ruhe als in dem
endlichen Ausgangspunkt, wo die gewaltsame Spannung sich in ideales
Mitleid auflöst und die Harmonie des vollendeten Kunstbaues uns die
innere Versöhnung wiedergibt. Umgekehrt bleiben wir dem epischen
Erzähler gegenüber immer in der Freiheit des Gemütes und in der
allseitigen Integrität unsrer Kräfte. Statt wie im Drama den Gehalt
heftig zusammenzudrängen, entfaltet er vielmehr das ganze Leben, die
ganze Breite menschlichen Wirkens und Daseins mit allen
Nebenumständen, allen Nebenstimmungen in gleichmäßig heller
Beleuchtung. Seine freundliche Ansicht der Dinge gewährt auch dem
Unscheinbarsten ein Dasein im Ganzen und er verweilt gern dabei. Mit
göttlicher Unparteilichkeit und Unbefangenheit gibt Homer jedem
Gegenstande, dem größten wie dem kleinsten seinen Namen und sein
Recht; nachgiebig und milde hebt er jede zur Seite sich anschließende
Beziehung hervor, sie mag wichtig oder unwichtig sein, und sich ganz
hinter der von ihm geschilderten Welt verbergend läßt er alles und
jedes sich in seinen eigensten Tönen aussprechen und nach seiner
eigensten Form und Stelle in das reiche und mannigfache Bild einfügen.
In dem weiten Umfang seines anschauenden Geistes und in der
gleichmäßigen Wärme seiner Teilnahme ist nichts als störend,
überflüssig oder unbedeutend ausgeschlossen. Er berichtet uns nicht
bloß, wie seine Helden hassen, lieben und kämpfen, sondern auch, wie
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